London. Borussia Dortmund hat an der Sensation gekratzt – und doch 0:2 gegen Real Madrid verloren. Diese verpasste Chance könnte noch sehr schmerzen.
Es gibt verpasste Chancen, die schmerzen mit der Zeit immer mehr, weil sich die Erkenntnis manifestiert, dass sie so schnell nicht wiederkommen werden.
Als sich der Samstag langsam verabschiedete, funkelte auf dem Rasen des Londoner Wembleystadions noch das Konfetti der Siegerfeier; die Gladiatoren des Abends waren bereits vom Spielertunnel verschluckt worden. Weiter unten an jenem mystischen Ort, der schon viele Dramen erlebt hatte, beugte sich Emre Can nach vorne, um die Fragen der riesigen Medienmeute besser zu verstehen. Es tue weh, aber der Klub könne stolz auf das Erreichte sein, erzählte Dortmunds Kapitän. „Wir hätten unsere Chancen nutzen müssen.“ Schon in der Kabine habe er zur Mannschaft gesprochen und ihr gesagt, dass es sich für diese Erlebnisse lohne, weiter hart zu arbeiten. „Wir haben bewiesen, dass wir gegen jeden Gegner der Welt mithalten können.“
Dem Wort Stolz konnte man nach dem Schlusspfiff kaum aus dem Weg gehen. Mats Hummels benutzte es, auch Sportdirektor Sebastian Kehl und Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke. 0:2 hatte der BVB im Finale gegen Real Madrid verloren, aber viele, viele Herzen gewonnen.
Die BVB-Fans riss es von den Sitzen
Dies lag an dem wilden Spielverlauf, der wie eine Kassette (die Älteren werden sich erinnern, was dies ist) zwei Seiten hatte. In der ersten Hälfte brachten die Dortmunder das große Real Madrid ins Wanken, die 25.000 mitgereisten Fans riss es von ihren Sitzen, als Karim Adeyemi vor Torhüter Thibaut Courtois das Herz in die Hose rutschte, als Niclas Füllkrug grätschend den Innenpfosten traf, als mit jeder Minute die Überzeugung zu wachsen schien, den Favoriten stürzen zu können. Diese Euphorie trug die Borussen, wie zum Symbol sprinten nach einer Madrid-Ecke fast alle nach vorne, selbst Mats Hummels wetzte wie ein 100-Meter-Läufer in die andere Hälfte. Und vielleicht übertrieben die Spieler es, vollgepumpt mit Adrenalin, in diesen Momenten bereits.
„Wir müssen ehrlich sein, Dortmund war das bessere Team in der ersten Halbzeit, sie hätten 2:0 oder 3:0 führen können. Aber sie haben uns nicht gekillt, so konnten wir zurückkommen“, sagte der ehemalige Dortmunder Jude Bellingham.
BVB – plötzlich in einem Horrorfilm
Denn mit dem Beginn der zweiten Hälfte begann sich das Bild zu wandeln. Real wirkte defensiv nicht mehr so angreifbar, Vinicius Junior düpierte Julian Ryerson mit der Hacke, Toni Kroos übernahm die Kontrolle. Es mutete aus Dortmunder Sicht an wie ein Horrorfilm, bei dem man weiß, dass etwas passiert, die Frage lautet nur, wann. Die Antwort: in der 73. Minute.
Kroos ließ einen Eckball an den kurzen Pfosten rauschen. Ian Maatsen verlor Daniel Carvajal aus den Augen, Niclas Füllkrug konnte die Verfolgung nicht mehr aufnehmen. Der Madrilene köpfte in die rechte Ecke, Mats Hummels berührte den Ball sogar noch mit der Hand, aber da hatte dieser bereits die Torlinie überquert. Das Unheil rollte über den BVB hinweg. Nur wenig später, in der 83. Minute, versagten Maatsen die Nerven. Sein miserabler Fehlpass landete Jude Bellingham, der sah Vinicius Junior. Und der begnadete, doch in seinem Auftreten meist unfaire Brasilianer entschied das Finale.
Die große Chance, sie entglitt dem BVB.
„Mein Gefühl in der ersten Halbzeit war: Wir haben sie. Wir haben von der ersten Sekunde an der ganzen Welt gezeigt, dass wir dran glauben, dass wir nicht hier sind, um das Finale zu spielen, sondern um es zu gewinnen“, meinte Edin Terzic. „Wir haben uns für die guten Situationen nicht belohnt. Sie sind dann eiskalt.“
Große BVB-Momente, große BVB-Dramen
Der Dortmunder Abend lieferte große Momente. Hummels trat als Abwehrchef in seinem vermutlich letzten Spiel in Schwarz-Gelb auf wie ein Maestro. In Hälfte eins funktionierte das Gegenpressing. Kapitän Can eroberte Bälle, Maatsen gewann Zweikämpfe, Ryerson ackerte und ackerte. Die Borussia passte sich mutig nach vorne, Adeyemi, Füllkrug und Marcel Sabitzer kratzten am Führungstor.
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Der Dortmunder Abend lieferte genauso Dramen. Der traumatische Fehlpass von Maatsen gehörte dazu. Marco Reus wurde eingewechselt und musste nur kurz danach mitansehen, wie Carvajal vor Freude über die Führung über den Rasen rutschte. Adeyemi werden die zwei vergebenen Gelegenheiten wohl noch verfolgen in der Sommerpause. Am Sonntagnachmittag landete die Mannschaft wieder im Ruhrgebiet, noch am Abend startete für die einen der Urlaub, die anderen werden bald zu ihrer Nationalauswahl stoßen. Es steht ja noch die Europameisterschaft an.
Der Kader wird sich verändern, prägende Figuren ziehen weiter. Reus verabschiedet sich, Hummels wohl auch. Ob die Leihspieler Maatsen und Jadon Sancho in der kommenden Spielzeit zur Borussia gehören, muss erst noch verhandelt werden. Ein Sechser wird gesucht. Ein Stürmer.
BVB-Kapitän Emre Can: „Nächstes Jahr werden wir es wieder versuchen“
„Ab morgen haben wir den klaren Auftrag, dieses Erlebnis in Motivation umzumünzen“, sagte Trainer Terzic. „Nächstes Jahr werden wir es wieder versuchen“, meinte Emre Can. Der Klub aus dem Ruhrgebiet hat durch seine unerwartete Champions-League-Reise über 100 Millionen Euro eingenommen, das vergrößert den Spielraum der sportlichen Leitung um den neuen starken Mann Lars Ricken. Doch dass es der BVB, dessen Möglichkeiten im Vergleich zu einem Verein wie Real Madrid trotzdem mickrig klein erscheinen, schnell wieder in ein Königsklassen-Endspiel schafft, muss trotzdem als unwahrscheinlich bezeichnet werden.
Die verpasste Chance, sie könnte noch sehr schmerzen.