Clermont. Das 100-Meter-Finale in Paris 2024 ist schwerer denn je zu erreichen. Sprinterin Gina Lückenkemper lässt trotzdem nichts unversucht.
Gina Lückenkemper klatscht sich mit den Händen kräftig auf die Oberschenkel. Es ist eine Mischung aus Mutmacher und Motivation, die sie gut gebrauchen kann. Vor ihr liegt eine Langhantel. 80 Kilogramm hat Trainer Lance Brauman auflegen lassen. Noch nie hat Lückenkemper so viel Gewicht beim Umsetzen gehoben. Deshalb ist sie etwas nervös, hat sogar ein wenig Angst.
Brauman weiß um ihre Sorge. Doch er liebt es, die Athleten seiner internationalen Trainingsgruppe hier in Clermont, 40 Kilometer westlich von Orlando, herauszufordern. Mit verschränkten Armen und leicht breitbeinig steht der grau melierte Amerikaner vor Lückenkemper.
Gina Lückenkemper: Persönliche Bestleistung an der Hantelstange
Durch die breite Fensterfront sind ein großer Pool und Palmen zu sehen – Florida wie aus dem Reisekatalog. Doch Lückenkemper hat keinen Blick dafür. Sie holt tief Luft, zieht die Hantel explosiv auf Schulterhöhe, drückt sich hoch in den Stand und lässt das Gewicht erleichtert auf den Boden fallen. Geschafft. Persönliche Bestleistung. Brauman klatscht drei Mal in die Hände und gibt ihr einen Fist bump.
Seit Herbst 2019 arbeiten beide zusammen. Lückenkemper, die Sprinterin aus Soest, die für den SC Charlottenburg startet, wollte sich durch einen Wechsel nach Florida einer neuen Herausforderung stellen und näher an die Weltspitze heranzukommen. Brauman gilt als Starcoach, das National Training Center in Clermont als Medaillenschmiede. Lückenkemper ist die einzige Deutsche hier, steht täglich mit der Weltklasse zusammen auf der Laufbahn oder im Kraftraum.
Gina Lückenkemper trainiert an der Seite von Noah Lyles, dem schnellsten Mann der Welt
Links neben ihr macht an diesem Tag Noah Lyles seine Kniebeuge. Der US-Amerikaner ist derzeit der schnellste Mann der Welt, gewann bei der WM in Budapest Gold über 100 und 200 Meter sowie mit der 4x100-Meter-Staffel. Schräg gegenüber greift Wayde van Niekerk zur Hantel. Der Südafrikaner sprintete 2016 in Rio in Weltrekordzeit zum Olympiasieg.
Lückenkemper, sagt Brauman, sei „mental sehr stark“. Die 27-Jährige führt dies auf ihr Umfeld zurück. Wer es gewohnt ist, jeden Tag mit oder gegen die Besten zu laufen, erstarrt bei einer WM nicht in Ehrfurcht, wenn die superschnellen Jamaikanerinnen oder Amerikanerinnen auf der Nebenbahn stehen.
Nach dem Umsetzen folgen diverse Sätze Kniebeuge, Sprünge auf einen 75 Zentimeter hohen Kasten und Stabilisierungsübungen mit dem eigenen Körpergewicht. An das Training im Kraftraum habe sie sich erst gewöhnen müssen, sagt Lückenkemper. In Deutschland, wohin sie aber auch wie dieser Tage immer wieder zurückkehrt und trainiert, hatte sie nie solch ein Pensum im Gym absolviert. Sie habe sich „enorm verbessert und gelernt, ihren Sport als Beruf zu verstehen“, betont Brauman.
Gina Lückenkemper: In Europa top, in der Welt fehlt noch der große Lauf
Vor einem Jahr war Lückenkemper um diese Zeit bereits Rennen gelaufen, von Januar bis im August jeden Monat bei Wettkämpfen gestartet. Anfang Mai sprintete sie in Atlanta in 11,00 Sekunden ins Ziel. So schnell war sie so früh in einer Saison noch nie unterwegs gewesen. Es folgten weitere konstant flotte Zeiten.
Dass es letztlich jedoch zu viele Wettkämpfe und zu viele Rennen sein sollten, hatte sie erst bei der WM in Budapest gemerkt. Lückenkemper wollte erstmals den Endlauf erreichen, verpasste das Finale jedoch um 17 Hundertstelsekunden. „Ich war körperlich gut drauf, konnte meine Leistung aber einfach nicht auf die Bahn bringen“, sagt sie.
Diesmal verzichtet Lückenkemper auf die Hallensaison, fokussiert sich stattdessen auf den Kraftraum und spürt bereits erste Ergebnisse. „Ich bin im Wintertraining so stark wie noch nie, stelle im Gym persönliche Bestleistungen auf und renne auch auf der Bahn konstant schnell“, sagt sie mit strahlendem Gesicht. Zudem verkrafte sie das Training „viel besser als in den Vorjahren“. Das führt Lückenkemper darauf zurück, dass sie seit 2022 verletzungsfrei ist, so von einer Saison auf die nächste aufbauen und sich deshalb „ganz anders weiterentwickeln“ könne.
Gina Lückenkemper sieht sich in ihrer Hochzeit
Seit 2015 läuft die gebürtige Westfälin bei großen Events, startete damals als Teenagerin bei der WM in Peking und schied mit einer Zeit von 11,34 Sekunden im Vorlauf aus. Jetzt ist Lückenkemper 27 Jahre alt. Für eine Sprinterin sei das „die Prime“, wie sie betont – also die Hochzeit.
In Europa gehört sie seit Jahren mit sechs Medaillen zu den Schnellsten. Lückenkemper gewann 2022 in München EM-Gold über 100 Meter und mit der Staffel, mit der sie kurz zuvor auch noch WM-Bronze geholt hatte – neben Weitsprung-Gold für Malaika Mihambo die einzige Medaille für den Deutschen Leichtathletik-Verband bei den Wettkämpfen in Eugene/Oregon. Auf der Weltbühne hingegen war im Einzel die Konkurrenz bislang spätestens im Halbfinale zu schnell.
Trainer Lance Brauman traut Gina Lückenkemper das Olympia-Finale zu
In Paris nimmt Lückenkemper einen weiteren Anlauf, will ins 100 Meter-Finale der Olympischen Spiele sprinten. Zuvor startet Deutschlands Sportlerin des Jahres 2022 im Juni als Titelverteidigerin bei der EM in Rom. Das gegenwärtige Training mache sie „euphorisch für den Sommer“, sagt Lückenkemper, „ich habe einen Titel zu verteidigen, das nehme ich nicht auf die leichte Schulter“. Lance Brauman traut ihr in Paris sogar den Endlauf zu, betont allerdings, dass es derzeit „wohl so schwer wie noch nie“ sei, ein Olympia-Finale zu erreichen.
Das Ziel, am 3. August um 21.20 Uhr im Stade de France auf einer der acht Bahnen gegen die Besten der Welt laufen zu können, lässt Lückenkemper all die Qualen und mitunter auch Tränen im Training vergessen. Und so schön Florida auch sein mag, für sie sind die Reisen nach Clermont reine „Business Trips“. Die bekannten Vergnügungsparks von Disney World sind nur wenige Kilometer entfernt, Lückenkemper war trotzdem noch nie dort. Und wenn Leute sie fragen, was sie in Florida machen könnten, zuckt Lückenkemper mit den Schultern. „Ich bin nur zum Trainieren, Essen und Schlafen hier.”