Leverkusen. Bayer Leverkusen kann am Sonntag Meister werden. Jens Nowotny, viermal Vize mit dem Werksklub, spricht über die Bedeutung des Titels.

Überragenden Fußball vom Werksklub? Gab’s schon häufig. Die Chance auf drei Titel in einer Saison für die Rheinländer? Hatten wir auch, liegt nur bereits 22 Jahre zurück. Jens Nowotny kennt diese Situation gut. Was den langjährigen Kapitän von Bayer Leverkusen, der von 1996 bis 2006 unterm Bayer-Kreuz spielte, vom aktuellen Team unterscheidet, das am Donnerstagabend im Viertelfinal-Hinspiel der Europa League West Ham United mit 2:0 bezwang? Zumindest die Meisterschaft kann die Auswahl von Trainer Xabi Alonso eigentlich nicht mehr verspielen. Um die Schale in der Hand zu halten, würde schon am Sonntag (17.30 Uhr/DAZN) ein Sieg gegen Werder Bremen genügen. Oder ein Dreier an einem der darauf folgenden fünf Spieltagen, so groß ist der Rückstand des dann entthronten Elfmal-in-Serie-Champions FC Bayern München. Ein Gespräch mit Jens Nowotny, 50 Jahre alt und zuletzt Assistenztrainer bei den deutschen U17-Weltmeistern, über vier zweite Plätze mit Vizekusen, Tränen bei Ulf Kirsten sowie die Bürde für Florian Wirtz und Co., die herausragende Saison nach dem Sommer in der Champions League bestätigen zu müssen.

Bayer Leverkusen vor der Meisterschaft: Nowotny begeistert vom Team

Die Vizemeister-Mannschaft von Bayer Leverkusen 1996/97: (von links) Christoph Daum, Nico Kovac, Jens Nowotny, Rene Rydlewicz, Erik Meijer, Jan Heintze, Co-Trainer Manuel Cardoni, Robert Kovac und Co-Trainer Roland Koch.
Die Vizemeister-Mannschaft von Bayer Leverkusen 1996/97: (von links) Christoph Daum, Nico Kovac, Jens Nowotny, Rene Rydlewicz, Erik Meijer, Jan Heintze, Co-Trainer Manuel Cardoni, Robert Kovac und Co-Trainer Roland Koch. © Firo

Herr Nowotny, Sie haben ein Jahrzehnt für Bayer Leverkusen gespielt. Was ist Ihre schönste Erinnerung an den Werksklub?

Jens Nowotny: Da gibt es einige emotionale Momente auf dem Platz. Aber die eigentlich schönsten Erinnerungen habe ich an die Mitspieler, die Menschen auf der Geschäftsstelle, das Trainer-Team. Das sind Begegnungen, die noch heute schön sind und die man noch heute pflegt.

Sie haben mal gesagt, dass das Saisonfinale 2002 das Faszinierendste gewesen sei, das Sie im Fußball je erlebt hätten.

Auf jeden Fall. Es lässt sich mit dem vergleichen, was gerade in Leverkusen passiert. Außer dass wir damals keinen Titel geholt haben. Aber wir haben trotzdem erfolgreich Fußball gespielt.

Nowotny über verlorene Titel mit Bayer Leverkusen: Dieser Makel bleibt

Und zwar mit Ihnen an der Seite von Michael Ballack, Lucio und Emerson, Ulf Kirsten, Bernd Schneider und Dimitar Berbatov. Ist beneidenswert schöner Fußball manchmal mehr wert als Titel?

Wenn du bei Bayern München spielst, ist ein Titel vielleicht nicht so viel wert, weil es womöglich der siebte oder achte in kurzer Zeit ist. Das ist es viel spezieller, wenn Leverkusen jetzt Meister und vielleicht auch Pokalsieger werden sollte. Ich hoffe, dass das nicht einzigartige Erlebnisse bleiben werden. Was uns damals betrifft: Ich glaube, wenn wir einen Titel damals gewonnen hätten, würde man heute nicht mehr über unsere Art sprechen, wie wir Fußball gespielt haben. Ich kann natürlich niemandem widersprechen, der sagt: Ganz nett, aber nur für schönen Fußball kannst du dir nichts kaufen. Dieser kleine Makel bleibt an uns allen heften.

Waren all die zweiten Plätze von Bayer 1997, 1999, 2000 und 2002 zu negativ bewertet?

Im Nachgang kann ich das ganz gut einschätzen. Ich bin lieber achtmal Zweiter geworden als einmal aufgestiegen. Klar, so eine Aufstiegsfeier ist toll, aber ich hatte immer das Glück, in der Bundesliga zu spielen. Diese zweiten Plätze musst du ja auch erstmal erreichen. Und wenn du dann sogar im Finale der Champions League stehst, bedeutet es, dass du zwei komplette Saisons auf so hohem Niveau gespielt hast. Darauf kann man schon stolz sein. Aber wissen Sie was?

Jens Nowotny spielte von 1996 bis 2006 für Bayer Leverkusen.
Jens Nowotny spielte von 1996 bis 2006 für Bayer Leverkusen. © Firo

Bitte.

Sollte Kaiserslautern jetzt gegen Leverkusen das Pokalfinale verlieren, sehen Sie da nur enttäuschte Gesichter. Schafft aber der Drittletzte der Bundesliga in der Relegation den Klassenerhalt, ist bei denen alles toll. Knapp verpasster Titel, soeben verhinderter Abstieg – was ist besser? Manchmal ist die Wahrnehmung schon kurios. Auch bei uns flossen nach der Champions-League-Niederlage gegen Real Madrid Tränen, weil wir Zweiter waren. Dass es mega war, was wir erreicht hatten, realisierten wir erst später.

Warum hatte Leverkusen eher den Patentschein auf Vizekusen als eine Meisterschale in der Hand?

Vielleicht waren wir nicht reif genug für den Titel, nicht abgezockt genug, nicht konstant genug. Man darf nicht vergessen: Der jeweilige Zweite hat damals mitgezogen, wir sind nie alleine marschiert. 2000 hatte Dortmund einen Punkt mehr als wir, 2002 entschieden die Bayern dank der besseren Tordifferenz den Titel für sich. Das ist dieses Jahr etwas anders. Die Bayern haben eine schwierige Saison, was Leverkusens Leistung nicht schmälert. Aber so ist jetzt sogar eine perfekte Saison ohne Niederlage in greifbarer Nähe.

Nowotnys Psycho-Tricks als Trainer: Mit mir werdet ihr Zweiter, der Rest liegt an euch

Lösen lauter zweite Plätze irgendwann Selbstzweifel aus?

Das nicht, nein. Ich nenne es mal positive Psychologie, denn wir konnten uns ja vor jeder Saison sagen: Zweiter werden wir auf jeden Fall. (lacht) Das habe ich der U17-Weltmeisterschaft-Mannschaft gesagt, als ich dazu gekommen war: Mit mir werdet ihr auf jeden Fall Zweiter, der Rest liegt an euch.

1997 gab es die erste Vizemeisterschaft. Vergeigt hat die Mannschaft es ausgerechnet am vorletzten Spieltag im Derby beim 1. FC Köln.

Das war besonders ärgerlich, weil die Fans die doppelte Häme abbekamen. Für Ulf Kirsten war das damals extrem, er hatte eine enge Verbindung zu den Fans. Dadurch bekam er hautnah mit, wie sehr die gelitten haben, wie die erzählten: Morgen gehe ich wieder arbeiten, dann schmieren mir sechs FC-Fans das aufs Brot.

Konnten Sie damals Lehren daraus ziehen?

Eben nicht, wir haben keine Lehren daraus gezogen. Wir sind ja nicht den entscheidenden Schritt weitergekommen, sondern auch danach Vizemeister geblieben.

Saison 1999/2000: Bayer Leverkusen verspielt am letzten Spieltag durch ein 0:2 bei der SpVgg Unterhaching die Meisterschaft. Die Fans der Werkself sind trotzdem dankbar.
Saison 1999/2000: Bayer Leverkusen verspielt am letzten Spieltag durch ein 0:2 bei der SpVgg Unterhaching die Meisterschaft. Die Fans der Werkself sind trotzdem dankbar. © Firo

Was Trainer Christoph Daum für Bayer Leverkusen bedeutet hat

1999 das nächste Mal. Wie war es in den Jahren damals mit Christoph Daum als Trainer, dem großen Motivator?

Christoph hatte einen Plan, er machte jeden Spieler besser, hob ihn auf ein anderes Niveau – und hat nichts verherrlicht. Stattdessen bekam jeder aufgezeigt, was man durch harte Arbeit und Glaube an ihn erreichen konnte. Er hat uns Potenziale für die nächsten Jahre aufgezeigt. Natürlich gab es auch mal Dämpfer, aber wenn wir international aufgetreten sind, waren wir ja auch immer ein Aushängeschild des deutschen Fußballs.

2000 dann Ihre dritte Vizemeisterschaft, das 0:2 am letzten Spieltag in Unterhaching. Dazu die vergurkte EM in den Niederlanden und Belgien. Aber es sollte 2002 ja noch schlimmer kommen mit drei verpassten Titeln.

Wenn ich ehrlich bin: Da war ich fast schmerzfrei, emotionslos. Ich hatte das Pokalfinale, den Bundesliga-Endspurt, das Champions-League-Endspiel verpasst, weil ich verletzt war. Für mich standen die Operation in den USA, die Reha im Fokus – nicht die verlorenen Titel. Das war kein Egoismus, aber für mich ging es in dem Moment darum, ob ich meine Karriere würde fortsetzen können. Ich habe leider durch die vielen Verletzungen auch die Schattenseiten des Fußballs kennengelernt: Wenn du nicht mehr mitwirken, helfen kannst, interessiert sich spätestens ein Spiel danach niemand mehr für dich. Es waren elf andere auf dem Platz, der Trainer konnte nichts mit dir anfangen, weil du nicht fit warst. Fuhr die Mannschaft nach dem Training nach Hause, kamst du zur Reha in den Klub. Da ändert sich ein Leben auf einmal komplett.

Ein Traumsaison von Bayer Leverkusen - nur ohne Titel: 2002 gab es im Finale der Champions League ein 1:2 gegen Real Madrid mit Zinédine Zidane.
Ein Traumsaison von Bayer Leverkusen - nur ohne Titel: 2002 gab es im Finale der Champions League ein 1:2 gegen Real Madrid mit Zinédine Zidane. © Firo

Sie hatten da Ihren zweiten von vier Kreuzbandrissen. Der damalige DFB-Teamchef Rudi Völler sagte mal: Mit einem gesunden Jens Nowotny hätte Bayer sicher einen Titel geholt. Ein Trost?

Es ist zwar irgendwo schön, aber ich glaube auch: So schlimm wie für mich mit der Verletzung war es auch für die Leverkusener Verantwortlichen, da keinen Titel geholt zu haben.

Beste Bayer-Truppe? Nowotny sieht da nicht die eine Mannschaft

Die Mannschaft von 2002 gilt als die beste, die Bayer je hatte. Sind Sie diesen inoffiziellen Titel vielleicht schon am Sonntag los?

So wie es jetzt läuft, brauchen wir uns darüber nicht zu unterhalten. Dieses Leverkusen tut dem deutschen Fußball gut. Zwei Titel sind gebucht, ein dritter ist durchaus möglich. Auch von der Attraktivität des Spiels her war es über weite Strecken der Saison top. Aber ich tue mich ein bisschen schwer, Mannschaften miteinander zu vergleichen und zu sagen: Wir waren die beste Mannschaft der Vereinsgeschichte. Wobei das immerhin ein Titel gewesen wäre. (lacht). Aber: Die Aufstiegsmannschaft 1979 war die wichtigste für den Verein, die Pokalsieger-Truppe 1993 war überragend, und das Team, das den Uefa-Cup 1988 gewann, sowieso.

Bitterer Gang am Henkelpott vorbei: ein enttäuschter Michael Ballack nach dem verlorenen Champions-League-Finale gegen Real Madrid.
Bitterer Gang am Henkelpott vorbei: ein enttäuschter Michael Ballack nach dem verlorenen Champions-League-Finale gegen Real Madrid.

Woran denken Sie, was sehen Sie, wenn die Wirtz‘, Frimpongs, Grimaldos und Bonifaces Fans begeistern und von Sieg zu Sieg eilen?

Der aktuelle Erfolg bietet eine große Chance. Wie die Mannschaft die Fans erreicht, ist der Wahnsinn. Man muss nur das Feuer, das man bei Heimspielen in der Arena spürt, über die Saison hinausgetragen. Damit das Team nächstes Jahr nicht irgendwo mitschwimmt und die Stimmung nicht verflacht. Ganz wichtig: sich nicht blenden zu lassen vom Erfolg. Denn im Erfolg werden die größten Fehler gemacht. Niemand darf sich auf dem Gipfel wähnen; was du jetzt in der Europa League hast, musst du nächste Saison in der Champions League bestätigen. Aber da mache ich mir bei Bayer keine Sorgen, die sind da top aufgestellt.

Bayer Leverkusen: Einzelkönner wie Wirtz hängen sich fürs Team rein

Die Mannschaft besteht aus lauter herausragenden Einzelkönnern. Warum funktionieren sie auch als Team?

Der Erfolg trägt jeden Einzelnen. Er führt allen vor Augen, was getan werden muss, damit er beibehalten wird. Viele Spieler sind auch bereit, über ihren Schatten zu springen: Florian Wirtz trägt nicht bloß die Nummer zehn auf dem Rücken über den Platz spazieren, sondern lebt auch die Nummer sechs, geht Zweikämpfen hinterher. Jonathan Tah hört nicht an der Mittellinie auf, sondern kämpft auch jenseits weiter. Das schweißt alle Einzelkönner zusammen.

Was bedeutet der bevorstehende Titel für Bayer Leverkusen? Für viele Fußballanhänger ist Leverkusen der Klub der Pillendreher, Spiele gegen den VfL Wolfsburg werden als „El Plastico“ verunglimpft. Ändert sich diese Wahrnehmung nun?

Das Wichtigste ist, dass die Menschen, die mit Bayer zu tun haben und davon vielleicht noch beeinflusst werden, diesen Gedanken-Switch hinbekommen: Wir haben hier einen Klub, der Tradition hat. Vielleicht nicht so viele Fans wie andere Erst- oder Zweitligisten, aber wir haben eine Kultur, die top ist und auf Respekt fußt. Wenn man das verinnerlicht, ist man auch gewappnet gegen solche dummen Sprüche von außen.

Xabi Alonso als Trainer, Simon Rolfes als Sport-Geschäftsführer – hat sich in den letzten Jahren etwas an der Leverkusener Mentalität geändert?

So weit würde ich nicht gehen. Erfolg stärkt das Selbstbewusstsein, wenn man merkt, was hier entstehen kann. Dann entsteht auf jeden Fall ein ganz anderes Vertrauen.

Leverkusens Gegenwart: Trainer Xabi Alonso feiert mit Mittelfeld-Star Florian Wirtz.
Leverkusens Gegenwart: Trainer Xabi Alonso feiert mit Mittelfeld-Star Florian Wirtz. © Getty Images | Alex Grimm

Nowotny: Alonso und Wirtz werden die Herausforderung annehmen

Man muss befürchten, dass Xabi Alonso und einzelne Spieler wie Florian Wirtz vielleicht schon jetzt zu groß sind für die Werkself. Wohin werden ihre Wege führen?

In Leverkusen jedenfalls haben sie noch ein Jahr Champions League vor sich. Mit der Bürde, dass sie die auslaufende Saison danach auf einer noch höheren Ebene wiederholen müssen. Die Champions League wird eine Herausforderung sein – sowohl Xabi Alonso als auch Florian Wirtz werden sie annehmen. Sie sind noch jung, für sie ist das der nächste Schritt, sie können das alles für sich gut bewerten. Und Granit Xhaka will ja nächstes Jahr mit dem Titel in der Königsklasse aufhören. Warum auch nicht? (lacht)

Ein übermächtiges Bayer Leverkusen mit derzeit 16 Punkten Vorsprung beendet nun also elf Jahre Titel-Tyrannei des FC Bayern. Müssen wir jetzt eine neue Langeweile in der Bundesliga befürchten?

Ich hätte nichts dagegen. Man kann ja auch den Bayern durchaus mal die Rolle des Verfolgers zumuten, dort wird mit Sicherheit ein Umbruch stattfinden. Also durchaus: Es kann eine kurze Leverkusener Ära geben.