Madrid. Bei Borussia Dortmund einst aussortiert, blüht Axel Witsel bei Atlético Madrid noch einmal auf. Das liegt auch an seiner neuen Position.
Als er im Sommer 2022 von Borussia Dortmund zu Atlético Madrid kam, erlebte Axel Witsel gleich eine Überraschung. Trainer Diego Pablo Simeone teilte dem Belgier mit, dass er mit ihm nicht im Mittelfeld plane, wo er sich über seine lange Karriere als eleganter wie energischer Zentrumsspieler einen Namen gemacht hatte – sondern in der Abwehr. Simeone verkaufte die Umschulung auch als karriereverlängernde Maßnahme, den neuen Job als körperlich nicht ganz so intensiv. Witsel, der in Dortmund am Ende bisweilen als überteuertes Auslaufmodell kritisiert wurde, hatte nichts auszusetzen: „Ein Fußballer will spielen, egal wo.“
Knapp zwei Jahre später dürfen sich alle Beteiligte bestätigt fühlen: Simeone als visionärer Coach, der auch dank dieser Maßnahme seinen einstigen Defensivkünstlern einen wagemutigeren Spielstil verpasst hat – und Witsel, 35, als anpassungsfähiger Teamplayer, der einen goldenen Karriereherbst erlebt. Neben Kapitän Koke und Starangreifer Antoine Griezmann gehört er vor dem Wiedersehen mit dem BVB im Champions-League-Viertelfinale am Mittwoch (21 Uhr/DAZN) zu den zuverlässigsten Leistungsträgern bei Atlético. Statistiker fanden heraus, dass er in fast zwei Ligasaisons noch keinen Fehler begangen hat, der zu einem gegnerischen Torabschluss geführt hätte. Dabei ist der Routinier aus Lüttich der Madrider Feldspieler mit den meisten Einsatzminuten.
Als „Simeones perfekten Feldmarschall“ feiern ihn die Medien wie „El País“ und staunen, dass er seine Darbietungen in den großen Spielen sogar noch steigern kann. Bei Atléticos Achtelfinalerfolg gegen das favorisierte Inter Mailand überragte Witsel sowohl auswärts im Hinspiel, als sein Team kompakt verteidigte, wie auch im Rückspiel, als es über die meiste Zeit gegen einen Rückstands anstürmte und hinten mehr Raum lassen musste. Im Stile eines Liberos putzte Witsel gegnerische Konter weg, während er im Spiel nach vorn seine Aufbauqualitäten einbrachte, die Simeone besonders schätzt, weil sie die eines üblichen Verteidigers weit übertreffen.
Vereinsrekord bei Atlético Madrid
Es ist der Part des Abwehrspiels, der ihm dank seiner Erfahrung im Mittelfeld und seiner Technik am leichtesten fällt. Als Junge schulte er seine Ballbehandlung beim Futsal, mittlerweile ist er bei einer Passsicherheit angekommen, die statistisch nicht mal den Vergleich mit Spezialisten wie Toni Kroos (Real Madrid) oder Ilkay Gündogan (Barcelona) scheuen muss. Laut Daten des Klubs hält er nach nicht mal zwei Jahren bereits den Vereinsrekord für Partien ohne einen einzigen Fehlpass. Im November gelang es ihm gar, gegen Mallorca in der Liga und Feyenoord in der Champions League zwei solcher Matches aneinanderzureihen. 112 Zuspiele am Stück fanden ihren Mann – obwohl er beileibe nicht nur Sicherheitspässe spielt.
Schwieriger war da schon die Umstellung auf die Kernarbeit eines Verteidigers. „Höchstens drei oder vier Partien in Dortmund“, so erinnerte er sich selbst, habe er in seiner Karriere schließlich mal als Innenverteidiger gespielt. BVB-Fans denken an diese Experimente eher mit Gruseln zurück, Witsel wirkte schlicht zu langsam. Auch seither hat er sich nicht in Usain Bolt verwandelt. Aber das Profil der Position studiert, das Wechselspiel mit den Kollegen und das ideale Verhalten im Raum. Witsel kompensiert sein Tempodefizit mit exzellentem Stellungsspiel. Physisch stark im Zweikampf und Kopfballspiel war er sowieso schon immer. Und während er in Dortmund als Notbehelf in einer Viererkette aushelfen musste, spielt Atlético fast immer mit drei zentralen Abwehrleuten. Das gilt gerade für Positionsfremde als etwas einfacher.
Noch immer Freunde bei Borussia Dortmund
„Ich bin kein sonderlich schneller Spieler, aber das Wichtigste ist, schnell im Kopf zu sein“, sagt er selbst. Gegen den BVB – den Simeone als „intensivste Mannschaft unter den letzten Acht“ lobt – muss er nun in Jadon Sancho oder Karim Adeyemi so spritzige und wendige Spielertypen verteidigen, wie sie ihm die meisten Probleme bereiten. Nebenher will er sich aber auch ein bisschen Nostalgie erlauben. „Es wird besonders für mich, vor allem das Rückspiel. Ich habe immer noch Freunde dort, etwa Marco Reus.“
Wie einst im Ruhrgebiet sind auch in Madrid die Perücken seiner Afro-Frisur zum beliebten Tribünenutensil geworden, und schwärmen weibliche Fans von seinen blauen Augen. Witsel, der ordentlich Spanisch spricht, fühlt sich wohl und alles deutet daraufhin, dass er über sein Vertragsende im Sommer hinaus bleibt. Ehe er als Trainer – er besitzt schon die zweithöchste Uefa-Lizenz – oder Sportdirektor weitermachen will, spüre er „noch zwei, drei Jahre“ im Tank, sagt Witsel. Neue Position, neues Glück: „Dank Simeones Idee kann ich meine Karriere noch etwas ausdehnen.“