Philadelphia. Deutschland sucht unter Bundestrainer Julian Nagelsmann sein Glück in der Offensive. Das macht Laune, aber es bleiben Probleme.
Leroy Sané probierte es mit allen Mitteln. Er zupfte an Ilkay Gündogans grün-blauem Sweatshirt, dann zog er auch noch an dessen Arm. Aber Deutschlands Kapitän blieb in der Interviewzone des Lincoln Financial Fields von Philadelphia stehen, statt mit seinem Mitspieler in Richtung des Mannschaftsbusses zu verschwinden – was gleich zwei Erkenntnisse liefert.
Gündogan, 32, kennt seine Pflichten, die die schwarz-rot-goldene Binde, die er seit September über den Arm zieht, mit sich bringt. Und dazu gehört nun mal, für das Team zu sprechen.
Die andere Erkenntnis dieser Szene aber ist deutlich wertvoller. Leroy Sané hatte Spaß. An der Laune des Flügelstürmers von Bayern München lässt sich relativ zuverlässig ablesen, wie es gerade um eine Fußball-Mannschaft bestellt ist. Läuft es nicht, schleicht er mit dicken Kopfhörern auf den Ohren durch Stadionkatakomben, die Mundwinkel nach unten, die Augenbrauen zusammengekniffen. Gerne hat er auch die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen.
Ilkay Gündogan: "Insgesamt war es eine gute Woche"
Sprechen wollte Sané zwar auch in Philadelphia nicht, aber das 2:2 (1:1) der deutschen Nationalmannschaft am Dienstagabend (Ortszeit) gegen Mexiko wird ihm gut gefallen haben. Nach dem überzeugenden Einstand gegen die USA (3:1) war das Duell mit den Mittelamerikanern der nächste Mutmacher für den neuen Bundestrainer Julian Nagelsmann acht Monate vor der Heim-Europameisterschaft. „Insgesamt war es eine gute Woche“, meinte Gündogan, sagte allerdings auch selbstkritisch: „Uns war im Vorfeld klar, dass die Kurve jetzt nicht nur bergauf zeigen kann, sondern dass es auch mal schwierigere Spiele geben wird. Gerade vor der Kulisse, gegen eine aggressive Mannschaft auf einem nicht ganz perfekten Platz war es eine Erfahrung, die uns für die Zukunft weiterbringt. Wir sind in einem Lernprozess.“
Den spiegelte die Partie vor 62.284 Zuschauerinnen und Zuschauern, überwiegend in rot-weiß-grünen Mexiko-Klamotten gekommen, anschaulich wider. Gündogan und Pascal Groß überzeugten erneut als Schaltzentrale im zentralen Mittelfeld. Florian Wirtz und Jamal Musiala ließen immer wieder ihr Können aufblitzen, waren aber genauso wie Sané im letzten Spieldrittel nicht zwingend genug. Niclas Füllkrug hingegen bewies kurz nach seiner Einwechslung für den blassen Thomas Müller seinen Torriecher und traf in der 51. Minute zum 2:2-Endstand, dem eine wunderbare Kombination über Wirtz, Musiala und Sané vorausgegangen war.
In einem zweikampfbetonten Spiel hatte Innenverteidiger Antonio Rüdiger die DFB-Elf in Führung geköpft (25.). Zwölf Minuten später bereitete der 30-Jährige von Real Madrid den Mexikanern allerdings den Weg zum Ausgleich, als er einen schlampigen Pass zu Niklas Süle spielte, den Uriel Antuna nutzte. „So in der Art und Weise das erste Gegentor zu kassieren, das ist natürlich schon bitter“, befand Gündogan. Kurz nach der Pause drehte Erick Sanchez das Spiel, Süle hatte es nicht geschafft, den Spurt des 1,67 Meter kleinen Profi des CF Pachuca zu verhindern.
Julian Nagelsmann: "Wir wollen versuchen, weniger Angriffe gegen uns zu kriegen"
Die deutsche Elf verteidigte wie schon gegen die USA hoch, woraufhin Mexiko mit langen Bällen operierte. Immer wieder stießen die Gastgeber auf Zeit in Philadelphia hinter die Kette vor, weil das DFB-Team viel zu schnell den Ball wieder an die aggressiv pressenden Mexikaner verlor. Rüdiger, der souveräne Jonathan Tah, und Malick Thiaw, der in der zweiten Halbzeit ins Spiel kam und viele Zweikämpfe gewann, mussten mehrfach in höchster Not klären. Nach wie vor sind die defensiven Flügel Problempositionen, was Nagelsmann zwar verneinte. Dass der Trainer in zwei Partien insgesamt sechs Profi dort spielen ließ, ist allerdings ein klares Indiz dafür, dass bisher niemand den Bundestrainer vollends überzeugen konnte.
Nagelsmann ist „davon überzeugt, dass wir unser Heil in der Offensive suchen müssen“, sagte er angesichts der hohen Qualität auf diesen Positionen. „Aber wir wollen versuchen, weniger Angriffe gegen uns zu kriegen, das ist der Schlüssel. Ich war in Mathe nicht gut, aber wenn wir nur drei Angriffe kriegen, ist die Wahrscheinlichkeit für Gegentore geringer als bei zehn.“ Die Botschaft des 36-Jährigen am Ende seiner ersten Dienstreise als Bundestrainer war im Hinblick auf die defensiven Anfälligkeiten jene: „Bis zum Turnier müssen die Dinge alle sitzen - und bis dahin werden sie alle sitzen.“ Wir schaffen das.
Jamal Musiala: „Ich glaube, dieser Lehrgang war gut für das Gefühl"
Es überwiegte ja auch das Positive, der Hauch Aufbruchstimmung, der die DFB-Elf und Nagelsmann in den vergangenen Tagen begleitet hat, ist auch durch die American-Football-Arena an der US-Ostküste geweht. „Ich habe noch keine Mannschaft trainiert, die so schnell Dinge umsetzt. Das stimmt mich extrem optimistisch“, lobte der Bundestrainer. „Ich war absolut begeistert, deshalb mache ich mir keine Sorgen. Ich habe eine totale Einheit gesehen, sowohl im Hotel als auch auf dem Platz.“ Auch Jamal Musiala lobte: „Ich glaube, dieser Lehrgang war gut für das Gefühl für das ganze Team. Im November gehen wir dann den nächsten Schritt.“
In der nächsten Länderspielphase trifft die deutsche Elf in Berlin auf die Türkei (18. November) und in Wien auf Österreich (21. November). Nagelsmann kündigte an, dann sein Hauptaugenmerk auf die Defensivarbeit zu legen. Ob das gelungen sein wird, wird Leroy Sané notfalls erneut schweigend mitteilen.