Antwerpen. Vor zehn Jahren wurde Simone Biles erstmals Turn-Weltmeisterin. Der nun 20. Titel ist ein besonderer. Über eine Ausnahmeerscheinung.
Sie wirbelt durch die Luft, als würden die Gesetze der Schwerkraft für sie nicht gelten. Mit einer Leichtigkeit, die ihre Auftritte prägte, seit sie vor zehn Jahren an gleicher Stelle mit zwei Goldmedaillen ihr Debüt auf der Weltbühne des Kunstturnens gab, kombiniert Simone Biles Salti und Schrauben miteinander, als wären es einfachste Elemente. Bei der Weltmeisterschaft in Antwerpen dominiert sie wie eh und je die Szene, gilt nicht nur im Mehrkampf an diesem Freitag, sondern auch in drei von vier Gerätefinals am Wochenende als Favoritin. Der Titel, den sie am späten Mittwoch mit dem US-Team gewann, ist der 20. ihrer einzigartigen Karriere, 33 WM- und Olympiamedaillen bedeuten einen Rekord.
Die Zweifel springen bei Simone Biles immer mit
Was das Publikum, das es angesichts dieses unnachahmlichen Könnens im Sportpaleis der belgischen Hafenstadt von den Sitzen riss, nicht sieht, sind die Zweifel, die bei Biles mitfliegen, seit sie bei den Olympischen Spielen 2021 einen Blackout hatte. Mentale Probleme zogen die Höhenfliegerin damals herunter. Bei der Mannschaftsentscheidung verlor sie mitten im Sprung die Orientierung. Solche Blockaden tauchen in ihrem Metier immer wieder auf. Biles brach den Wettkampf ab, nahm sich eine Auszeit, von der auch sie selbst lange nicht wusste, ob sie je enden würde. Bei ihrer Rückkehr ins internationale Geschäft scheint sie so stark wie nie, auch wenn sie bei ihren Auftritten ernster und fokussierter wirkt und im Vorfeld gestand, dass die „Twisties“, die sie damals plagten, noch immer in ihrem Kopf herumschwirren.
„Ich denke heute mehr über das Turnen nach, es ist nicht mehr so sorgenfrei“, sagte die 26-Jährige nach dem Mannschaftskampf-Gold. „Ich bin nicht mehr 16, es fühlt sich alles anders an.“ Das tägliche Training sei härter, der Körper nicht mehr so bereit. „Viele sagen: Du siehst großartig aus, und ich fühle mich vielleicht gerade, als würde ich sterben.“
Den spektakulären Sprung, mit dem sie in der Qualifikation am Sonntag Aufsehen erregt hatte, ließ sie aus Sicherheitsgründen beim Kampf um den siebten US-Teamtriumph in Folge weg. Den Jurtschenko mit gebücktem Doppelsalto, bei dem sich die 1,42 Meter große Akrobatin nach einem Rondat, einer Radwende, aufs Brett und einem Flick-Flack in den Stütz von dort aus nach oben katapultiert, um zweieinhalb Mal um die Breitenachse zu rotieren, gab es bislang nur bei den Männern. Als erste Frau verdient sich Biles damit ihren fünften Eintrag eines Elements unter ihrem Namen in den Wertungsvorschriften. Mit einem Ausgangswert von 6,4 Punkten wurde das Wagnis so hoch eingestuft, dass die stärksten Konkurrentinnen von Anfang an acht Zehntelpunkte weniger auf dem Konto aufweisen. Es ist allerdings so riskant, dass selbst sie es nur mit ihrem Trainer Laurent Landi als Absicherung zeigt. Dafür nimmt sie einen Abzug von einem halben Punkt in Kauf.
Simone Biles: Keine Magie – nur Fakten
Ihre exponierte Position hat Biles in der Vergangenheit an anderer Stelle genutzt. Damals, als es um den Missbrauchsskandal um den früheren US-Teamarzt Larry Nassar ging. Sie outete sich selbst 2018 als eines der Opfer des mittlerweile zu lebenslänglicher Haft verurteilten Betreuers, setzte sich für die anderen Betroffenen ein und prangerte die Verbrechen unterstützenden Bedingungen im nationalen Verband an. Sie selbst schloss später nicht aus, dass dies Teil der unerträglich gewordenen Last war, die ihre psychischen Probleme auslöste.
Es sei keine Magie, die der Hochbegabten zu einer solchen Größe verhelfe, sagt Landis Frau und Co-Trainerin Cecile. „Sie ist eine der härtesten Arbeiterinnen, die ich je gesehen habe“, eine Perfektionistin, die sich mit Mittelmäßigkeit nicht zufrieden gebe. Wie lange sie sich das noch antue, sich für Titel quäle, die sie fast alle schon gesammelt hat, sei nicht klar. Auch von dem jetzt als sicher gehandelten Auftritt bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris spricht die viermalige Goldmedaillengewinnerin von Rio selbst nur vorsichtig: „Jetzt bin ich erst mal gespannt“, sagte sie, „was diese WM noch bringt.“