Poligny. Ohne ein Radsportwunder wird der Däne seinen Tour-Titel verteidigen. Seine fabelhaften Leistungen begleiten jedoch Skepsis.

Man sieht es Jonas Vingegaard kaum an, was er geleistet hat bei dieser Frankreich-Rundfahrt. Sein Gesicht ist meist unbewegt, wenn er auf dem Rad sitzt. Es wirkt wie eine Maske, auch weil es bis auf dünne Hautschichten abgemagert ist. Bloß nicht zu viel Gewicht hochschleppen in die Berge ist das Motto. Gern versteckt er seine Augen hinter einer großen Sonnenbrille.

Große Dinge hat der 26 Jahre alte Däne aber zustande gebracht. Zunächst hat er mit seinem zwei Jahre jüngeren Rivalen Tadej Pogacar einige Bergrekorde gebrochen. Beide waren am Tourmalet schneller als je ein Radprofi im Wettkampf zuvor. Sie pulverisierten die Bestzeiten der Hochdoping-Ära, waren in 45:35 Minuten zwei Minuten schneller oben als Lance Armstrong und Jan Ullrich 2003. Auch am Col de Marie-Blanque (5. Etappe), dem Col du Grand Colombier (13. Etappe) und Le Bettex (15. Etappe) jagten sie sich zu neuen Rekordmarken.

Tour de France: Nicht alle Fahrer sind transparent

Danach hängte Jumbo-Visma-Star Vingegaard den Verfolger Pogacar (UAE Team Emirates) im Zeitfahren ab, war mehr als 2 km/h schneller über 22 Kilometer, mehr als 4 km/h schneller sogar als Wout van Aert. Der Belgier, im letzten Jahr noch Sieger des Tour-Zeitfahrens, meinte nur: „Ich bin der Beste von den Normalen.“ Als „nicht normal“ sieht Antoine Vayer (60) die Leistungen der Besten der Tour an. Vingegaard hielt der französische Dopingjäger schon im letzten Jahr für problematisch, berechnete ihm 423 Watt an den langen Anstiegen. In diesem Jahr hat er für ihn Wattwerte von 486 am Marie-Blanque ermittelt. Das ist gigantisch, eine ganze Ecke mehr als Superdoper Lance Armstrong (51), dem alle sieben Gesamterfolge in Frankreich aberkannt wurden, mit dessen 456 Watt 2004 bei l’Alpe d’Huez.

Tadej Pogacar (.) und Jonas Vingegaard.
Tadej Pogacar (.) und Jonas Vingegaard. © AFP

Vayer nimmt bei seiner Berechnung gefahrene Zeiten, preist Neigung der Anstiege ein, rechnet Gewicht der Rennfahrer auf einen Standard um. Das ist auch umstritten. „Du kannst so etwas nicht seriös machen, wenn du nicht das genaue Gewicht der Fahrer kennst, nicht den Wind und auch nicht die jeweilige Dynamik des Rennens“, kritisiert Liljan Calmejane. Der Profi vom Rennstall TotalEnergies ist keiner, der vertuschen will, lud gar seine Leistungsdaten beim letzten Tour-Zeitfahren hoch. „Um Glaubwürdigkeit herzustellen, wäre es besser, wenn auch andere Fahrer das machen würden, auch die besten.“

Sie machen es nicht. So bleibt nur der Blick von außen. Mit dem lässt sich manches erklären. Beim Zeitfahren etwa. „Vingegaard hat bei den Abfahrten und in den Kurven 30 Sekunden auf Pogacar gewonnen. Weitere 30 Sekunden hat Pogacar durch den Radwechsel verloren. Den Rest kann man damit erklären, dass das Profil besser für Vingegaard war“, rechnete Aike Visbeek, Trainingsexperte und sportlicher Leiter von Georg Zimmermann bei Intermarché Circus Wanty, vor.

Tour de France: Team Jumbo-Visma ist führend

Für die generell schnelleren Zeiten der Gegenwart – die letzte Tour war die schnellste überhaupt, die aktuelle ordnet sich als zweitschnellste ein – werden gewöhnlich Faktoren wie besseres und aerodynamisch optimiertes Material, Fortschritte in Sachen Ernährung, besseres Training und Augenmerk auf einen möglichst gut gekühlten und damit leistungsfähigeren Körper ins Feld geführt. Vingegaards Team ist in manchem noch besser als die Konkurrenz. „Unsere Techniker haben mir gesagt, dass wir allein mit unserem Lenker sieben Watt einsparen. Das klingt nicht nach viel. Es summiert sich aber über drei Wochen. Denn die Fahrer müssen, um dieselbe Geschwindigkeit zu erreichen, sieben Watt weniger treten“, so Rennstallboss Richard Plugge. Dass Pogacar auf der 17. Etappe einbrach, und fast sechs Minuten auf Vingegaard verlor, führte Plugge auf perfektes Umsetzen des eigenen Plans zurück. „Wir wollten ihn brechen. Und als das dann geglückt war, kommen auch die Abstände.“

Jonas Vingegaard kämpft sich im Gelben Trikot den Berg hinauf.
Jonas Vingegaard kämpft sich im Gelben Trikot den Berg hinauf. © afp

Natürlich spielen auch andere Faktoren hinein. Jumbo-Visma gehört zu den Teams, die auf umstrittene Nahrungsergänzungsmittel wie Ketone setzen. Im Umlauf im Peloton sind auch Schilddrüsenmedikamente. Mit diesen Medikamenten kann man abnehmen, ohne an Muskelkraft zu verlieren und den Energiehaushalt im Körper optimieren. Sie haben aber Nebenwirkungen wie Herzrhythmusstörungen.

Tour de France: Jonas Vingegaard beteuert Unschuld

Vingegaard verneinte auf Nachfrage, dass er Schilddrüsenmedikamente nehme. „Ich habe niemals von solchen Sachen gehört und nehme sie auch nicht“, sagte er. Generell sagt er: „Ich verstehe die skeptische Sichtweise vollkommen. Wir müssen aufgrund der Ereignisse in der Vergangenheit skeptisch sein. Sonst würde es einfach wieder passieren“, sagt er: „Ich verstehe alle Fragen, die wir dazu bekommen, voll und ganz. Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass ich nichts nehme. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass es die Skepsis gibt. Denn wir sind schneller als damals.“

Da ist man wieder beim alten Dilemma angelangt: Man kann ihm glauben oder sicherheitshalber so lange misstrauen, bis die Antidopingdiagnostik ein paar Schritte weitergekommen ist. Dafür wird aber noch mehr Zeit ins Land gehen als bis Sonntag, wenn Jonas Vingegaard, sollte er auf den letzten beiden Etappen nicht noch unerwartet aus der Tour ausscheiden, im Gelben Trikot auf den Champs-Élysées seinen Titel verteidigen