Frankfurt/Main. Ein Jahr vor der EM in Deutschland präsentiert sich die deutsche Nationalmannschaft in einem ziemlich trostlosen Zustand.
Rudi Völler ist am Sonntagmittag mit einer klaren Botschaft in den DFB-Campus in Frankfurt gekommen. „Natürlich wird Hansi Flick Trainer bleiben“, stellte der Sportdirektor klar. Man sei noch immer davon überzeugt, dass der 58-Jährige „der Richtige sei“, an dieser Einschätzung habe auch die 0:1-Niederlage am Freitagabend in Warschau gegen Polen nichts verändert, und auch wenn die deutsche Nationalmannschaft am kommenden Dienstag in Gelsenkirchen gegen Kolumbien (20.45 Uhr/RTL) nicht gewinnen würde, bliebe Flick selbstverständlich im Job.
Denn „Fakt“ sei für Völler, dass Flick „ein absoluter Toptrainer“ ist. Und dazu einer, der sich stetig frage, „wie sein Team eine Top-Europameisterschaft“ 2024 spielen könne, sagte Völler. Die Ergebnisse stimmen zwar noch nicht. Aber, so konnte man zumindest den Eindruck gewinnen, wenn man dem 63-Jährigen zuhörte: Sonst ist alles in bester Ordnung beim Aushängeschild des Deutschen Fußball-Bundes.
Schweinsteiger: "Vielleicht ist das das aktuelle Leistungsniveau"
Aber es gibt eben auch die andere Sichtweise, an dieser Stelle repräsentiert durch Bastian Schweinsteiger. Der Mann, der die DFB-Elf vor neun Jahren blutend zum WM-Titel führte und nun als Experte in der ARD auftritt, befürchtet: „Vielleicht ist das, was wir heute gesehen haben, das aktuelle Leistungsniveau der deutschen Nationalmannschaft. Vielleicht müssen wir die Erwartungshaltung senken.“ Der 38-Jährige formulierte diese Kritik am Freitagabend nach der Niederlage in Warschau. Sie wäre aber ebenso zulässig gewesen ein paar Tage zuvor, als man sich zu einem 3:3 gegen die Ukraine gequält hatte. Und erst recht im März, als die Belgier mal kurz aufgedreht und dem viermaligen Weltmeister beim 2:3 die Grenzen aufgezeigt hatten. Der 2:0-Sieg gegen ein unterdurchschnittliches Peru – geschenkt.
Anspruch und Wirklichkeit driften bei einigen Protagonisten im Verband, die von einem zweiten Sommermärchen fabulieren, immer weiter auseinander. Realistisch betrachtet befindet sich das DFB-Team weit weg von der Weltspitze – was unweigerlich den Druck auf den Bundestrainer erhöht, der nicht gegen die überhöhten Erwartungshaltungen ankämpft, sondern sie befeuert. „Wir sind auf einem guten Weg“, versprach der 58-Jährige in Warschau. „Wir werden im nächsten Jahr eine Mannschaft haben, die funktioniert.“ Ein Jahr vor der Heim-EM manövriert sich Flick so selbst in immer weiter eine missliche Lage. Wie konnte das passieren?
Dreierkette verursacht reichlich Probleme
Die Experimente: Der Bundestrainer hatte die Zeit nach dem WM-Debakel von Katar genau durchorchestriert. Im März, gegen Peru und Belgien, wollte Flick einige neue Spieler ausprobieren, ließ dafür arrivierte Profis zu Hause. In diesem Juni dann war der Plan, eine Dreier- als Alternative zur (bislang nicht überzeugenden) Viererkette einstudieren zu lassen. Was geblieben ist? Marius Wolf, Profi von Borussia Dortmund, konnte sich zumindest als Gewinner des Peru-Spiels auf der rechten Außenbahn aufdrängen. Die Dreierkette verursachte jüngst mehr Probleme gegen durchschnittliche Gegner, als dass sie stabilisierte.
Zu testen ist zwar Flicks gutes Recht als Trainer, doch das wäre deutlich sinnvoller eingesetzt, wenn bereits ein Grundgerüst stehen würde. Das aber existiert nicht, was etwa auch Leon Goretzka verwundert. „Du musst als Fan, finde ich, einfach wissen: Das ist meine Mannschaft“, sagte der Mittelfeldspieler von Bayern München. „Das ist der linke Flügelspieler, der marschiert hoch und runter und schlägt die Flanken. Das ist der Stürmer, der bei uns Tore macht. Wir sind noch auf der Suche nach der besten Mannschaft und der besten Formation. In diesem Prozess befinden wir uns aktuell, das muss man ganz ehrlich sagen.“
Flick erweist Kimmich einen Bärendienst
Der Widerspruch: Die Nationalmannschaft hatte sich das edle Ziel gesetzt, ihre Fans wieder zu begeistern. Eine öffentliche Trainingseinheit wie schon im März sollte dabei helfen, ein guter Schritt. Andererseits merkte man beim DFB rasch, dass sich dies doch viel besser durch gute Ergebnisse erreichen lässt – doch die blieben auch aufgrund Flicks Experimentier-Freudigkeit aus. Stattdessen verwies der Bundestrainer, der auf der Pressekonferenz in Warschau in einem Nebensatz erwähnte, dass er auch lieber nur zwei statt drei Partien im Kalender stehen gehabt hätte, auf die Spiele im September gegen Japan und Frankreich, wo „der Fokus noch mehr auf Stabilität gerichtet“, sei. Ja, was denn nun?
Die Kommunikation: Flick fühlte sich in Polen bemüßigt, Joshua Kimmich zu verteidigen. Dieser war zuvor von Rekordnationalspieler Lothar Matthäus („Die Nebenleute wurden neben ihm zuletzt konstant schlechter“) hart angegangen worden. Es ehrt ihn, seinen Kapitän zu schützen. Doch Flick erwies Kimmich, zu dem er schon zu gemeinsamen Bayern-Zeiten ein enges Verhältnis pflegte, einen Bärendienst. Der Trainer verglich Kimmichs Mentalität mit jener der Basketball-Ikonen Michael Jordan und Kobe Bryant, zwei der bedeutendsten Sportler der Geschichte. Völlig überzogen war das – und würde dem Mittelfeldspieler nicht nur in seinem gegenwärtigen Formtief auf die Füße fallen. Apropos Fingerspitzengefühl: Da war ja noch die Sache mit Niclas Füllkrug. In Bremen nahm Flick den Publikumsliebling zur Pause vom Platz, was die Pfiffe der aufgrund der Darbietung ohnehin gereizten Fans verstärkte. Gegen Polen saß Füllkrug überraschend nur auf der Bank. Stichwort: Goretzka: Die Fans müssen wissen, wer die Tore macht.