Hagen. Christian Gertz (76) ist ein international angesehener Fachmann, der längst im Ruhestand sein könnte. Doch er kämpft für Gerechtigkeit.
Die Flaschen stehen noch da, dicht an dicht im Labor. Blaue Etiketten, grüne Etiketten, gelbe Etiketten, Flaschen aus Italien, Spanien, Griechenland, alle von Discountern. Alles Flaschen, deren Inhalt angeblich beste Qualität hat. „Nativ extra“ heißt das bei Olivenölen. Ein Fernsehsender ließ die Produkte jüngst auf ihre Qualität testen. Christian Gertz (76) schürzt die Lippe und schüttelt langsam den Kopf. „Da war nicht viel Gutes dabei“, sagt er. Mal wieder.
Solche Sachen machen sie in diesem Labor im Erdgeschoss eines rot getünchten Gebäudes nahe der Hagener Innenstadt. Externe Labore, private und öffentliche Instanzen wenden sich immer wieder hierher, um Vergleiche anstellen zu lassen. Fernsehköche wie Björn Freitag und Nelson Müller bemühen mit dem WDR oder dem ZDF im Rücken die Expertise von Dr. rer. nat. Christian Gertz, einem international anerkannten Fachmann auf dem Gebiet der Fettwissenschaft. Spezialgebiet: Olivenöle, das flüssige Gold - vor allem für Betrüger.
Missbrauch bei Olivenöl an der Tagesordnung
„Kein Lebensmittel wird so oft verfälscht wie Olivenöl. Damit lässt sich richtig, richtig viel Geld verdienen“, sagt Gertz, der jahrzehntelang bis 2013 am Chemischen Untersuchungsamt Hagen tätig war, zuletzt als Amtsleiter. Erst danach widmete er sich noch intensiver dem Olivenöl. Qualitativer Missbrauch sei bei Olivenölen an der Tagesordnung. Die Machenschaften der Betrüger aufzudecken - auch daran hat er Freude. Bis heute. Gertz ist 76 Jahre alt. 1982 erhielt er den angesehenen Josef-Schormüller-Preis der Gesellschaft Deutscher Chemiker, 2004 die Normann-Medaille, die höchste Auszeichnung der Deutschen Gesellschaft für Fettwissenschaft. Längst könnte der Lebensmittelchemiker Öl Öl sein lassen. Aber er macht immer weiter. Täglich vier, fünf, sechs Stunden. Warum? „Aus Trotz und Sinn für Gerechtigkeit“, sagt er knapp.
Olivenöl: 5 Tipps vom Experten
Dr. Christian Gertz gibt Tipps, was man beim Kauf und im Umgang mit Olivenöl beachten sollte.
1. Was darf und sollte ein Olivenöl kosten? Allein der Preis sei natürlich kein Qualitätskriterium, sagt Gertz. Allerdings: „Der Preis eines guten Olivenöls kann nicht unter 20 Euro pro Liter liegen.“
2. Worauf muss ich im Supermarkt achten? Mittlerweile werde fast jedes Öl als „nativ extra“ verkauft. „Auch das Label ,Bio‘ ist rausgeschmissenes Geld“, sagt Gertz. Aber je mehr Informationen auf dem Etikett stünden, desto besser sei es. „Wer Erntejahr, Olivensorte und Herkunftsregion angibt, dem würde ich eher vertrauen.“
3. Woran erkenne ich ansonsten gutes Olivenöl? Als Laie nur am Geschmack und am Geruch. „Wer das Olivenöl in ein Cognacglas gibt, es schwenkt und nach zwei Minuten an das Kinn hält, bekommt einen ersten Eindruck“, sagt Gertz. Ist aus dieser Entfernung das fruchtige oder würzige Aroma des Öls zu riechen, ist das ein Hinweis auf ein gutes Olivenöl. „Bei schlechten Ölen riecht man selbst dann nichts oder kaum etwas, wenn man sich das Glas direkt an die Nase hält.“
4. Was ist noch wichtig? Die Olivenernte zieht sich für gewöhnlich von Oktober bis Februar oder sogar März hin. „Vor Februar oder März 2025 würde ich kein Olivenöl des aktuellen Jahrgangs kaufen“, sagt Gertz: „Die Gefahr ist groß, dass Restbestände des alten Jahrgangs mit dem neuen gemischt werden.“
5. Wie lange und wo kann ich Olivenöl lagern? Innerhalb von etwa sechs Wochen sollte angefangenes Olivenöl aufgebraucht werden, empfiehlt Gertz. „Am besten wird es im Kühlschrank gelagert, da ist es kühl und dunkel und das Öl wird nicht so schnell ranzig“, sagt Gertz. Es könnten zwar Trübungen durch gesättigte Fette entstehen, aber diese bildeten sich schnell zurück, wenn das Öl bei Raumtemperatur wieder wärmer werde.
Gertz ist seiner Zeit voraus. Der Kalender an der Wand weist am letzten Septembertag schon Oktober aus. Darunter steht sein Schreibtisch mit allem, was er braucht, um Olivenöle zu sezieren. Er hat ein Verfahren entwickelt, das in zwei Minuten 40 Kennwerte eines Öls ausspuckt, anhand derer er die Qualität, das Alter, die Haltbarkeit, die Aromaprofile und sogar die Herkunft bestimmen kann. Aber auch: den Grad der Verfälschung. Aufgrund der Erfahrungen in der Analytik sei das Labor Maxfry, das von der nächsten Gertz-Generation geführt wird und hauptsächlich Frittierfette optimiert, „als bisher einziges weltweit“ in der Lage, die sogenannte Nah-Infrarot-Spektroskopie auf diese Weise zu nutzen, heißt es auf der Homepage.
„Neuere, in anderen Ländern gewonnene Erkenntnisse, die bereits weltweit wissenschaftlich anerkannt sind, werden in der EU ignoriert und sogar blockiert.“
Das mit dem Gerechtigkeitssinn sei schon als Kind ausgeprägt gewesen, sagt Gertz über Gertz. Mit Lehrern habe er oft Schwierigkeiten gehabt. Er wollte Kunst und Musik studieren, aber der Kunstlehrer gab ihm eine 5 auf dem Zeugnis. Das fand er ungerecht. Mit Ach und Krach habe er das Abitur geschafft und dann Chemie studiert. Abschluss mit summa cum laude.
Sein Vater, erzählt Gertz, habe ihn schon als Kind mit Michael Kohlhaas verglichen, einem Pferdehändler aus der gleichnamigen Novelle Heinrich von Kleists aus dem 19. Jahrhundert. Der literarischen Figur widerfährt Unrecht, weshalb sie anschließend nach dem Motto handle: „Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrunde!“ Gerechtigkeit im Namen der Olive, darum geht es also heute noch immer. Auch wenn es ein Kampf gegen Windmühlen sei. „Olivenöl ist ein Politikum“, sagt Gertz.
Gerechtigkeit im Namen der Olive
Er trägt einen weißen Kittel. Mit einer Pipette befüllt er ein Probengläschen, das gleich in einer Maschine verschwindet, die wie ein alter Diaprojektor aussieht. Etwa drei Millionen Tonnen Olivenöl würden jedes Jahr produziert, sagt Gertz, während er das Gläschen in die dafür vorgesehene Öffnung steckt und wartet, dass die Ergebnisse angezeigt werden. Fruchtigkeit steht da als ein Parameter und dahinter der Wert 4,3. Bitterkeit: 3,1. Weiter rechts in roten Großbuchstaben: RANCID. Ranzig. Minderwertige Qualität. Keine Seltenheit.
Olivenöle vom Discounter seien oft Borderline-Öle, sagt Gertz: „Soweit bearbeitet, dass sie so gerade noch die gesetzlichen Normen der EU erfüllen.“ Aber auch die Olivenöle aus dem Supermarkt seien nicht selten Mogelpackungen. Oft würden gute Öle mit billigem, minderwertigem Olivenöl gestreckt. Oder es kämen unerlaubte Verfahren zum Einsatz, um fehlerhafte Gerüche oder Geschmacksnoten zu entfernen. Nicht selten seien die Herkunftsangaben falsch: Das Olivenöl, das er neulich untersuchte und das angeblich aus Spanien stamme, habe zu großen Teilen oder sogar vollständig aus Öl bestanden, das aus Drittländern wie Tunesien oder der Türkei kam.
EU-Verordnung ist ein „Kochbuch für Fälscher“
Schuld sei die veraltete EU-Verordnung, nach der die Ämter Olivenöl beurteilten und untersuchten. Sie stamme aus dem Jahr 1991. Sie werde nicht aktualisiert, weil die großen Olivenöl-produzierenden Länder in der EU (Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, Frankreich) nicht daran interessiert seien. „Dank der Verordnung kann man ohne Probleme verfälschte Olivenöle als ,nativ extra‘ verkaufen, solange die gesetzlichen Grenzwerte eingehalten werden. Die Verordnung ist ein Kochbuch für Fälscher – sie mischen, bearbeiten und panschen so lange, bis sie die Grenzwerte erreichen.“ Gertz‘ moderne Analysemethode dürfe nach EU-Verordnung nicht zum Einsatz kommen. „Es dürfen weiterhin ausschließlich die 60 Jahre alten Analyseverfahren der Verordnung verwendet werden“, sagt er eher trotzig als resigniert.
Aber da ist auch mehr als Trotz. Da ist Neugier auf etwas, das vielseitiger sei als man als Außenstehender denke. „Je mehr du vom Fett verstehst, desto mehr erkennst du, dass du darüber gar nichts weißt“, sagt er und lächelt. „Olivenöl ist so ungemein komplex zusammengesetzt und sensorisch sehr vielfältig....“ Er spricht wie aus Bewunderung nicht weiter. Noten von Tomate, von Apfel, von Nuss, von Gras, Zitrone, Banane, Artischocke oder frischen Kräutern könnten in der Nase und auf dem Gaumen zu vernehmen sein. Zumindest bei den guten.
Neue Erkenntnisse werden ignoriert
Jeden Tag bringt Christian Gertz sich auf den neuesten Stand der Fette, liest Publikationen, verfasst selbst Beiträge, besucht Symposien. Man dürfe nicht „narrow-minded“ sein, sagt er, also nicht engstirnig, sondern müsse offen für Neues sein. Fett- und vor allem die Olivenöl-Forschung sei aber unehrlich. Forschung werde eher in den Ländern unterstützt, in denen auch Olivenöl produziert werde. „Neuere, in anderen Ländern gewonnene Erkenntnisse, die bereits weltweit wissenschaftlich anerkannt sind, werden in der EU ignoriert und sogar blockiert. Das deckt doch nur die Machenschaften“, sagt er. „Als Wissenschaftler empfinde ich das als Provokation.“ Auch daraus speist sich sein Ehrgeiz, immer weiter zu machen.