Balve. Seit 200 Jahren stört das Häuschen im Wald von Balve niemanden - dann fällt es dem Märkischen Kreis auf. Ein Gericht entscheidet nun.

Das rostige Vorhängeschloss springt auf, knarzend öffnet sich die grüne Holztür zu einer anderen Welt. Einer verbotenen Welt, wenn man es genau nimmt - und in Deutschland nimmt man es nunmal sehr genau. Von der Decke hängt ein Kronleuchter für Kerzen, aus dem mit Feuer betriebenen Kachelofen riecht es nach kalter Asche, auf dem Tisch in der Stube steht eine Motorradbatterie, die eine winzige LED-Leuchte betreibt. Ein Stromnetz gibt es hier nicht, dafür fließend Wasser aus der eigenen Quelle - und draußen ein Plumpsklo.

Der Märkische Kreis schickt eine 13-seitige Abrissverfügung

Wie genau man es in Deutschland nunmal nimmt, erfährt Ralf Thiel-Siling (71) in den vergangenen Monaten durchaus leidvoll. Er erinnert sich gut an den Tag, an dem er in seiner Wohnung in Hemer den Brief öffnete. Absender: der Märkische Kreis, Fachdienst 46, Bauaufsicht und Immissionsschutz. 13 Seiten, eng bedruckt, ein wahres Feuerwerk unhandlicher Begriffe aus dem Rechtswesen, die ihm erklärten, was er schlichtweg nicht glauben konnte. „Mir ist die Kinnlade runtergefallen“, sagt er.

Inhalt des Schreibens vom 17. Januar 2023: Das kleine Haus tief im Wald von Balve im Sauerland, das ihm und seiner Schwester schon lange gehört, das da seit fast 200 Jahren steht und niemanden je störte, müsse innerhalb von zwölf Wochen abgerissen werden. Andernfalls drohten Strafzahlungen im fünfstelligen Bereich. „Bauaufsichtliche Ordnungsverfügung mit Androhung von Zwangsgeld“ ist der Text in einschüchterndem Amtsdeutsch überschrieben.

„Dann könnte man ja gleich auch die Burg Altena abreißen.“

Ralf Thiel-Siling
Besitzer des 200 Jahre alten Hauses im Balver Wald, für das es keine Baugenehmigung gibt

Es ist auch die Überschrift für einen Fall, der zeigt, wie sehr sich deutsche Regelungslust manchmal selbst im Weg steht. „Wenn alles nicht so ernst wäre, dann wäre es vielleicht lustig“, sagt Thiel-Siling und lächelt aber doch ein bisschen. Auch, weil er die deutsche Regelungslust zu nutzen weiß.

Er und seine Schwester besitzen den etwa 30 Hektar großen Wald, in dem das Haus, das kleine Nebengebäude und das Holzlager stehen, seit den 1970er Jahren. Dem Märkischen Kreis sei das Ensemble bei einem Ortstermin im Juli 2022 „aufgefallen“, teilt der Kreis auf Nachfrage dieser Redaktion mit: Es ging bei dem Termin um Kalamitätsflächen im Wald und um die Errichtung einer Windkraftanlage. Der Kreis hatte also Fragen und nahm schnell Kontakt zu Ralf Thiel-Siling auf.

Ausstattung des Hauses? „Zu Lebzeiten von Goethe luxuriös“

Dieser suchte seine Unterlagen zusammen, fuhr nach Lüdenscheid ins Kreishaus und gab Antworten - auch auf die Frage, wie die Ausstattung des Hauses wohl sei. „Zu Lebzeiten Goethes wäre es wohl als luxuriös zu bezeichnen gewesen“, habe er nach eigener Aussage zu Protokoll gegeben. Das habe der Mann beim Amt interessant gefunden, sagt Thiel-Siling. Wenig später hatte er die 13-seitige Abrissverfügung im Briefkasten. Für die bereits vorgenommene bauliche Maßnahme liege „keine Baugenehmigung“ vor.

Seit 1906 befinde sich das Haus im Besitz der Familie, sagt Thiel-Siling, der Großvater hatte es von einem Unternehmer gekauft, der es als Unterkunft für die Köhler genutzt haben soll, die im Wald Holzkohle machten. Im Ort bekannt ist es als Jagdhaus am Vogelsberg. Experten schätzen das Baujahr auf 1835. Damals ist Napoleon gerade ein paar Jahre tot und in Deutschland fährt die erste Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth. Baugenehmigungen gibt es damals schlicht nicht. „Dann könnte man ja gleich auch die Burg Altena abreißen“, sagt Thiel-Siling in ruhigem Ton. Deren Ursprünge stammen aus dem 12. Jahrhundert.

Der Märkische Kreis bestätigt zwar, dass es keine Baugenehmigung im klassischen Sinne geben könne. Der Bestandsschutz entfalle, wenn „die Nutzung des Gebäudes geändert wird: Ein Köhler wohnt dort schon lange nicht mehr und nach Umbau des Gebäudes wurde es lange Zeit als Wohnhaus genutzt und heute nach Auskunft des Eigentümers als Jagdhaus“, teilt die Behörde mit. Bereits die Wohnnutzung sei unzulässig gewesen. Eine Nutzung als Jagdhütte sei wegen der Nähe des Jagdreviers zur nächsten Ortschaft ebenfalls unzulässig.

Das Ur-Alt-Haus im Sauerland: So sieht es aus

200 Jahre lang störte das Haus im Wald niemanden - nun soll es abgerissen werden.
200 Jahre lang störte das Haus im Wald niemanden - nun soll es abgerissen werden. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck
Geweihe an den Wänden, ein Ofen und eine Motorradbatterie auf dem Tisch: Ralf Thiel-Siling in seinem Haus, dessen Einrichtung eher spartanisch ist.
Geweihe an den Wänden, ein Ofen und eine Motorradbatterie auf dem Tisch: Ralf Thiel-Siling in seinem Haus, dessen Einrichtung eher spartanisch ist. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck
200 Jahre lang störte das Haus im Wald niemanden, nun soll es abgerissen werden.
200 Jahre lang störte das Haus im Wald niemanden, nun soll es abgerissen werden. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck
200 Jahre lang störte das Haus im Wald niemanden, nun soll es abgerissen werden.
200 Jahre lang störte das Haus im Wald niemanden, nun soll es abgerissen werden. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck
200 Jahre lang störte das Haus im Wald niemanden, nun soll es abgerissen werden.
200 Jahre lang störte das Haus im Wald niemanden, nun soll es abgerissen werden. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck
Herd, der mit Hold betrieben wird: Dort werden stets Bratkartoffeln zubereitet.
Herd, der mit Hold betrieben wird: Dort werden stets Bratkartoffeln zubereitet. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck
Kein Strom, aber fließend Wasser und - ein Plumpsklo.
Kein Strom, aber fließend Wasser und - ein Plumpsklo. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck
Blick vom künftigen Standort des Windrades hinüber zum Haus im Wald.
Blick vom künftigen Standort des Windrades hinüber zum Haus im Wald. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck
Eine der Windkraftanlagen auf dem gegenüberliegenden Berg gehört Ralf Thiel-Siling.
Eine der Windkraftanlagen auf dem gegenüberliegenden Berg gehört Ralf Thiel-Siling. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck
200 Jahre lang störte das Haus im Wald niemanden, nun soll es abgerissen werden.
200 Jahre lang störte das Haus im Wald niemanden, nun soll es abgerissen werden. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck
200 Jahre lang störte das Haus im Wald niemanden, nun soll es abgerissen werden.
200 Jahre lang störte das Haus im Wald niemanden, nun soll es abgerissen werden. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck
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Die Windkraftanlage, um die es beim Ortstermin des Kreises ging, liegt in Wurfweite des Hauses. 240 Meter hoch wird „dieses Objekt. Höher als der Kölner Dom“, wie Thiel-Siling am steinernen Fundament stehend sagt. Er hat den Bau auf seinem Grundstück genehmigt. Eine der ersten Windkraftanlagen im Kreis habe er mit einigen Mitstreitern schon in den 1990er Jahren aufbauen lassen. Auf dem gegenüberliegenden Berg, Thiel-Siling zeigt mit dem ausgestreckten Arm hinüber, stehe eine weitere, die ihm gehöre. „Ich bin doch selbst Windmüller. Ich stehe doch Kollegen nicht im Weg“, sagt der Mann, der früher als Konstrukteur arbeitete.

„Es liegt eine rechtmäßige Rückbauverfügung vor, die jedoch nicht vollstreckt werden kann.“

Märkischer Kreis

100, vielleicht 150 Meter sind es vom Windrad, das jetzt gerade in seinem Wald gebaut wird, bis zu dem Haus, das Thiel-Siling zu Freizeitzwecken nutzt: Ausgangspunkts fürs Walken und Joggen oder Treffen mit Freunden. Dann werden auf dem alten Ofen Bratkartoffeln gemacht und ein Ei gebraten. Einmal die Woche, sagt Thiel-Siling, sei er etwa da oben.

Er versteht ja auch das Problem: Havariert die Anlage und landet auf seinem Haus, während er sich zufällig darin befindet, „dann wird ein Schuldiger gesucht“, vermutet er. Aber das Szenario sei unwahrscheinlich. Der Hauseigentümer besorgte sich nach der Post vom Kreis rechtlichen Beistand. Seitdem beklagt Thiel-Siling die Abrissverfügung vor dem Verwaltungsgericht in Arnsberg. Ausgang: offen.

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Der 71-Jährige wandte sich aber auch an den Denkmalschutz. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe bescheinigte dem Häuschen „bedeutend für die Geschichte des Menschen“ zu sein, da es zu den „seltenen und noch dazu gut überlieferten Realobjekten“ gehöre, die Zeugnis ablegten „über das Leben und Wirtschaften Mitte des 19. Jahrhunderts“. Der Rat der Stadt Balve votierte im Juni 2023 einstimmig dafür. Seither steht das Häuschen von Ralf Thiel-Siling unter Denkmalschutz. Der Märkische Kreis fasst den juristischen Status quo so zusammen: „Es liegt eine rechtmäßige Rückbauverfügung vor, die jedoch nicht vollstreckt werden kann, weil das Jagdhaus nach deren Erlass unter Denkmalschutz gestellt worden ist.“ Und das Windrad wird gebaut.

Urteil vom Verwaltungsgericht Arnsberg soll Klarheit bringen

Ralf Thiel-Siling lächelt jetzt wieder. Der materielle Wert des Hauses sei gering, aber „der ideele ist mit Geld und guten Worten nicht zu bezahlen“, sagt er. Er weiß noch, wie der Großvater damals manchmal vor dem Haus in der Sonne lag, „ein großer, hagerer Mann, ein genialer Konschtrukteur“, sagt er, mit „sch“. Wie ein Damoklesschwert schwebe die Ordnungsverfügung über dem Haus. Was, wenn der Denkmalschutz einmal aufgehoben wird, fragt er sich.

Deswegen will er Klarheit und ein Urteil aus Arnsberg. Für sich und die, die das Haus einmal übernehmen werden, „wenn ich die Augen einmal zu mache.“ Bis dahin soll ihm das Haus auf jeden Fall bleiben. „Das hier ist eine Erinnerung an alte Zeiten - und auch ein Gefühl von Autarkie“, sagt er, „wenn alles zusammenbricht, könnte man hier oben noch Bratkartoffeln machen.“