Hagen. Im Vergleich zum Rest der Republik ist die Corona-Lage in der Region noch ruhig. Der Experte sagt, was nötig ist, damit dies auch so bleibt.
Haben Sie sich geirrt, Professor Dittmer? Gerade einmal 14 Tage ist es her, da haben wir an dieser Stelle die Corona-Lage für die Region analysiert. Und der Chef-Virologe der Uni-Klinik Essen sagte, er rechne nicht damit, dass die Zahl der Neuinfektionen immer weiter und weiter steige. Zwei Wochen später erscheint das Ganze auf den ersten Blick wie aus einer anderen Welt. Immer neue Inzidenz-Rekorde werden aus der Republik vermeldet, vor allem aus Ostdeutschland und Bayern. Inzidenz-Werte von 500 bis 1000 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche werden dort gemessen.
Doch Professor Ulf Dittmer bleibt bei seiner Einschätzung, dass dem Virus aufgrund der vielen geimpften Menschen irgendwann die die Basis fehle, um sich unendlich auszubreiten. „Ja, das gilt weiterhin“, sagt er gegenüber unserer Zeitung. „Sehr hohe Inzidenzen kann man nur erreichen, wenn die Impfquote entsprechend niedrig ist. So gibt es derzeit in Deutschland einen klaren Zusammenhang. Daher werden wir in NRW Inzidenzen wie jetzt in einigen Regionen in Bayern, Thüringen oder Sachsen sehr wahrscheinlich nicht erreichen.“ In Sachsen sind nicht mal 60 Prozent der Gesamtbevölkerung geimpft, in NRW dagegen mehr als 74 Prozent, im Kreis Olpe sogar gut 80 Prozent.
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Auch sonst lautet das Fazit mit dem Blick auf die Zahlen: Noch ist die Lage im Vergleich zu anderen Teilen der Republik in der Region relativ entspannt. Schauen wir ….
… auf die Inzidenzen
Die Sieben-Tage-Inzidenz ist in den vergangenen 14 Tagen fast flächendeckend gestiegen – nur in Olpe gab es einen leichten Rückgang. Wie vergleichsweise moderat das Infektionsgeschehen im Regierungsbezirk aber aktuell noch ist, zeigt dieser Vergleich: In den zwölf Kreisen und Großstädten des Regierungsbezirks liegt die Inzidenz im Durchschnitt bei 106,2, in ganz NRW bei 130 und deutschlandweit sogar doppelt so hoch bei 213,7.
Eine Befragung unserer Zeitung unter den Kreisen und Städten in der Region ergibt zudem: Alle schaffen noch die zeitnahe Kontaktnachverfolgung – und zwar ohne wie in der dritten Welle der Pandemie – externe Kräfte wie etwa die Bundeswehr zur Hilfe zu rufen. Noch jedenfalls, wie einige betonen. Man bereite sich aber auf eine weit höhere Auslastung vor. Der Ennepe-Ruhr-Kreis zum Beispiel hat die Verträge der 28 zusätzlichen Kontaktnachverfolgungs-Kräfte, die im Winter eingestellt wurden, um ein weiteres Jahr verlängert. Man will gewappnet sein.
… auf die Krankenhäuser
Schaut man nur auf die Quote der Covid-Patienten auf den Intensivstationen der Region, dann gibt es noch keine besorgniserregende Entwicklung. Die Zahlen liegen fast überall im einstelligen Bereich, die Veränderungen binnen 14 Tagen sind eher gering (siehe Grafik).
Eine Umfrage unserer Zeitung bei einem knappen Dutzend Kliniken in der Region zeigt: Noch ist nirgends eine dramatische Situation eingetreten. Beim Jung-Stilling-Krankenhaus in Siegen liegt ein erster Höhepunkt schon 14 Tage zurück, seitdem sinken die Zahlen wieder. Andere Kliniken, ob in Siegen, Attendorn, Schwelm oder Arnsberg, melden hingegen: Die Zahl der stationären Covid-Patienten steige langsam an. Dr. Frank van Buuren, Chefarzt der Intensivstation am St.-Martinus-Hospital Olpe prophezeit, dass das auch so weiter gehen wird: „Es ist bekannt, dass die wesentliche klinische Verschlechterung erst ein oder zwei Wochen nach Infektion auftritt.“
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Insgesamt verfestigt die Befragung die Erkenntnis: Der größte Anteil der Patienten ist jünger als in den Wellen zuvor. Auf den Intensivstationen liegen fast ausschließlich ungeimpfte Patienten. Auf den Normal- bzw. Infektionsstationen ist der Anteil der vollständig Geimpften größer und liegt bei 30 bis 50 Prozent. Allerdings sind die Verläufe milder. Und: Die meisten Covid-Patienten werden auch ursächlich wegen der Corona-Infektion eingewiesen. Seltener wird die Infektion bei einem Krankenhausaufenthalt quasi nebenbei entdeckt.
… was getan werden muss
Eine Explosion der Inzidenzen befürchtet Virologe Ulf Dittmer zwar nicht, dennoch hält er eine Reihe von Maßnahmen für dringend geboten. Gehört die 2G-Regel auch dazu? Nur Geimpfte oder Genesene dürften dann in vielen öffentlichen Einrichtungen oder in der Gastronomie zugelassen werden. Bei den Bürgern scheint der Weg umstritten (die Ergebnisse einer Umfrage lesen Sie hier ). Professor Dittmer hält 2G aber für nachdenkenswert: „Wenn 2G zur Steigerung der Impfquote führt, muss das in Erwägung gezogen werden. Außerdem sollten sich Nicht-Geimpfte möglichst nicht mehr in großen Gruppen aufhalten. Das ist für sie extrem gefährlich, denn der Test ist nur ein Fremd- und keinerlei Eigenschutz.“ Noch wichtiger sind für ihn aber diese Punkte:
- Booster-Impfungen:„Es ist wichtig, Auffrischungsimpfungen möglichst schnell durchzuführen, bei den Über-70-Jährigen, im Laufe des Winters aber auch bei den Jüngeren. Wir sehen, welche ungeheuer positiven Effekte dies in Israel gehabt hat“, sagt Dittmer. „In Israel gibt es keine 200 Neuinfektionen mehr pro Tag. Das ist ein Ergebnis der konsequenten Drittimpfung.“
- Vollständige Impfung: „Wir müssen an die Gruppe derer ran, die sich nur einmal haben impfen lassen und die wir nun auch bei uns in der Uni-Klinik als Patienten sehen“, sagt der Virologe. „Das ist kein guter Schutz, vor allem nicht gegen die Delta-Variante. Das müssen wir noch einmal kommunizieren, das ist eine wichtige Aufgabe.“
- Maske: „Jetzt in der Phase den Mund-Nasenschutz in der Schule abzuschaffen, hat nichts mit einer wissenschaftlichen Begründung zu tun“, sagt Dittmer. „Jetzt haben wir die Delta-Variante und Kinder sind deutliche Treiber der Pandemie – und da schaffen wir den Mund-Nasen-Schutz ab. Kinder erkranken sehr, sehr selten an dem Virus, das ist ein großes Glück dieser Pandemie. Aber sie werden ihre Omas und Opas infizieren, deren Impfung acht oder neun Monate her ist.“ Das werde wieder zu einzelnen Fällen führen, in denen Menschen schwer erkranken. Politisch werde nun wieder gesagt, man brauche wieder Abstandsregeln. „Wir alle wissen aber, dass die Abstandsregeln im Alltag nicht eingehalten werden können. Das kann man nur, wenn man wieder drastische Kontaktverbote einführt. Was wir brauchen, ist der Mund-Nasen-Schutz.“
INFO: Noch langer Weg zum Booster-Erfolg
- 120.000 Booster-Impfungen sind bislang im Regierungsbezirk Arnsberg verabreicht worden. Das sind 3,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Nimmt man das vom geschäftsführenden Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) ausgegebene Ziel als Maßstab, dass bundesweit bis Weihnachten 20 Millionen Booster-Impfungen (24 Prozent der Bevölkerung) erfolgen sollen, als Maßstab, liegt vor der Region noch ein weiter Weg.
- 3,43 Menschen pro 100.000 Einwohner werden derzeit in NRW mit einer Corona-Infektion im Krankenhaus behandelt. Diese Hospitalisierungs-Inzidenz ist im Vergleich zum Vortag leicht gesunken.