Menden. Zu krank für die Spenderlunge, hieß es erst: Wie Janine Bauer aus Menden das neue Organ doch bekam und nun wieder vor Publikum singt.
Gelb und warm wie die Abendsonne scheinen die Lichter in Richtung Bühne. Janine Bauer sitzt auf den dunklen Brettern, vor ihr die leeren Sitzreihen aus schwarzen Stühlen. Scaramouche heißt das kleine Theater inMenden bei ihr um die Ecke, in dem die 53-Jährige immer wieder auftritt. Dass sie da sitzen kann, dass sie ruhig atmen und ihre Geschichte erzählen kann, ist ein kleines Wunder.
In Deutschlands größtem Transplantationszentrum kennt Janine Bauer jeder
„Ich hätte niemals für möglich gehalten, irgendwann wieder vor Publikum auftreten zu können“, sagt sie. Das war zu der Zeit, als sie kaum noch atmen konnte, als sie beim Aufstehen nach Luft schnappte und sich in Supermärkten vor Schwäche hinhockte und aus Scham so tat, als suche sie etwas im unteren Regal. Von damals aus betrachtet, ist die Gegenwart schier unmöglich.
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Sie hat Schauspiel und Gesang studiert, sie spielt und singt wieder. Die Luft dafür pumpt eine fremde Lunge herbei. In Hannover, im größten Transplantations-Zentrum Deutschlands, wurde ihr eine Spender-Lunge eingesetzt. „Dort wissen immer noch alle, wer ich bin, weil mein Fall so außergewöhnlich war.“
Chemo- und Strahlentherapie gegen den Krebs
Mit 28 begann ihr Leben ein anderes zu werden. Diagnose: Krebserkrankung des Lymphsystems. Behandelt wurde sie mit einer hochdosierten Chemo- und Strahlentherapie. Sie schien alles überstanden zu haben, ehe sich ihr Zustand über Jahre verschlechterte. Erst Kurzatmigkeit, dann Atemnot bei geringster Anstrengung, bis sie nur noch mit Sauerstoffmaske schlafen konnte. Mediziner, die lange die wahre Ursache nicht fanden: Strahlenfibrose - die Behandlung des Krebses hatte sie krank gemacht.
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„Atmen ist leben“, sagt sie heute. Ein Satz, kurz und einfach, so selbstverständlich. Wie Atmen. Das Leben eines Babys beginne mit seinem ersten Schrei, sagt sie. Und wenn das nicht geht? Wenn die Luft ausgeht, obwohl sie da sein müsste?
2011 steht fest, dass sie eine neue Lunge brauchen wird, damit ihr Leben weitergehen kann. Sie ist auf jemanden angewiesen, der ihr - ohne sie zu kennen - hilft. Völlig ohne Grund. Ohne Eigennutzen. Aus Solidarität. Viele Fragen der Corona-Pandemie - das merkt sie derzeit immer wieder - kommen Janine Bauer seltsam bekannt vor.
Keine Chance auf ein neues Organ
Einer, der es gut mit ihr meinte, legte damals ein Wort für sie ein, damit sie sich bei einer Koryphäe in Wien vorstellen konnte. Nach eingehenden Untersuchungen bekam sie irgendwann den Anruf: Sie würde nicht auf die Warteliste für ein Spenderorgan aufgenommen. Grund: Ihre Prognose sei zu schlecht, die Vernarbungen auf der Lunge zu schwerwiegend. Sie erinnert sich gut an den Anruf. „Das fühlte sich an, wie mein Todesurteil“, sagt Janine Bauer. An die Arbeit im Theater oder im gemeinsam geführten Café mit einer Freundin in Menden war damals schon länger nicht mehr zu denken. „Ich hatte null Hoffnung.“
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Die Fragen zur Organspende treiben sie heute mehr denn je um. Einmal im Jahr, jetzt im Februar, besucht sie auf Einladung die Organspende-Tage am Mendener Placida-Viel-Berufskolleg. Spricht über sich, ihre Geschichte, klärt auf, hofft, dass sich viele junge Menschen Fragen stellen: Zu ihrem eigenen Leben, zum Tod, zum Leben anderer. Und was sie wohl wollen würden, wenn sie plötzlich nicht mehr atmen könnten.
Widerspruchsregelung: Politik entscheidet sich dagegen
Sie hat Kontakt zum Bürgermeister aufgenommen, um das Thema zukünftig auch in anderen Schulen zu besprechen, am besten in allen. „Ich fänd es toll, wenn sich jeder einmal aktiv damit befasst hätte.“ Die Widerspruchsregelung, nach der jeder als Organspender gelten würde, der zu Lebzeiten nicht aktiv widerspricht, hätte dies bewirkt.
Janine Bauer bedauert, dass die Politik diesen Schritt nicht gewagt hat. Denn sie weiß ja, wie das ist. Dieses Warten auf die eine Chance, die einem noch bleibt. Ein Jahr und zwei Monate lang schellte das Handy nicht, das sie immer, immer bei sich trug. Im Transplantationszentrum in Hannover hatte sie einen weiteren, einen letzten Versuch unternommen, auf die Liste gesetzt zu werden. Die Chirurgen entschieden sich dafür, gaben ihr eine Chance. „Du weißt, dass sie dich nur 30 Minuten lang versuchen zu erreichen, wenn sie ein Organ für dich haben.“ Dann rückt ein anderer von der Liste nach.
Fünf Wochen auf der Intensivstation
Es gibt viele, zu viele auf der Liste gemessen an der Zahl der zur Verfügung stehenden Organe. Nachts um 2.30 Uhr klingelte das Handy. Die Tasche war längst gepackt, ein paar Dinge erledigte sie noch. „Ich weiß noch, dass ich bei mir die Treppe herunterging und plötzlich dachte: Du machst all das gerade vielleicht zum letzten Mal.“
23. August. Der Tag, an dem in Hamburg jemand stirbt, dessen Lunge zu ihr passt. „An diesem Tag feiere ich meinen zweiten Geburtstag“, sagt Janine Bauer. Neun Stunden dauerte die OP, fünf Wochen lag sie danach auf der Intensivstation. Normal sind zwei, drei Tage. Sie wird intubiert, wird beatmet. Die ersten Versuche, selbständig zu atmen? Lächerlich schwierig, nicht in Worte zu fassen. „Das war das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Unter Aufbietung aller Kräfte habe ich zwei Minuten geschafft. Doch die Kraft reichte nicht aus, die Lunge selbständig zu füllen.“
Ein langer Weg zurück
Wie sollte sie das jemals einen ganzen Tag und dann noch den Rest ihres Lebens allein können? Sie weiß noch heute, dass sie überlegte, wie sie sich von der Last des Atmens ein für alle Mal befreien könnte, wenn ihr bald die letzte Kraft ausginge. Aber der Lebenswille zog nicht aus. „Es gibt nicht viele, die die Klinik nach einer solchen Geschichte auf zwei Beinen verlassen.“ Ohne ein Beatmungsgerät als ständigen Begleiter. Ohne langfristige Beeinträchtigungen. Ohne dass es ihr bewusst war, summte und sang sie irgendwann plötzlich wieder unter der Dusche. Und später auch wieder auf Bühnen. Unbeschreiblich sei das gewesen, sagt sie.
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Damit ihr Körper die fremde Lunge nicht abstößt, nimmt sie auch achteinhalb Jahre danach noch starke Medikamente, die das Immunsystem herunterfahren. Das wiederum verträgt sich nicht gut mit einer weltweit grassierenden Viruskrankheit, die auf die Atemwege schlägt. Und die dazu führt, dass künstlerische Arbeit noch weniger gefragt ist. „Die Bühne, die Musik wird immer ein Teil meines Lebens sein, aber wieder ausschließlich davon leben - kann und will ich nicht mehr“, sagt Janine Bauer.
Was mir fehlt, ist ein Job, sagt sie. Es müsse gar nichts Künstlerisches sei. Ein Job, der ihr ein Auskommen sichert. Sicherheit in einem Leben, das keine Sicherheit bietet. „Ich gehe nicht davon aus 100 zu werden“, sagt sie, „aber für die Zeit, die ich habe, bin ich über alle Maßen dankbar.“ Sie will sie nutzen, mit Freude und Sinn füllen. „Für mich und andere.“
<<< HINTERGRUND >>>
- Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung befinden sich etwa 9100 Menschen in Deutschland auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Die meisten von ihnen warten auf eine Spenderniere. 2020 gab es bundesweit 913 Organspenderinnen und Organspender. Das entspricht 10,9 Organspenderinnen und -spender je eine Million Einwohner. In Europa führt Spanien regelmäßig die Statistiken zur Organspende an.
- 2020 kamen dort auf eine Million Einwohner 38,0 Organspenderinnen und Organspender. 2020 wurden etwa 4.900 Personen neu auf die Warteliste aufgenommen. 767 Personen auf der Warteliste sind 2020 verstorben.