Hagen. Hartmut Jagusch aus Hagen hat Probleme über Jahrzehnte in Alkohol ertränkt. Seit einem Jahr ist er trocken – und freut sich auf die Zukunft.
Er weiß, dass es zu spät war. Aber heißt es nicht, dass es nie zu spät ist? „Am Grab meiner Mutter habe ich ihr geschworen, dass ich ein Leben ohne Alkohol führen werde“, sagt Hartmut Jagusch, 53 Jahre alt, Brille, freundlicher Blick. Die Mama starb 2008. Weil er gerade einen Entzug in der Psychiatrie machte, konnte er sich damals nicht von ihr verabschieden. „Damit bin ich nicht klargekommen.“ Und wenn er nicht klarkam, das war schon immer so, dann trank er.
Jagusch sitzt an einem Tisch, vor ihm das Modell eines Schlachtschiffes. Die Bismarck im Maßstab eins zu dreihundertundfünfzig. Gesunken 1941. Die Besatzung riss sie mit in die Tiefe. Mit einem dünnen Pinsel trägt er graue Farbe auf Teile des Hauptdecks auf. Hinter ihm im Aquarium ziehen stumm Fische ihre Bahnen. Im Radio läuft „The Power of Love“. Die Kraft der Liebe ist groß. Häufig genug kommt sie aber gegen den Alkohol nicht an.
Letzter Rettungsanker: Falkenroth-Haus des Blauen Kreuzes
„Ich habe meine Familie so oft enttäuscht“, sagt Jagusch, der seit Dezember 2020 Bewohner des Falkenroth-Hauses in Hagen-Haspe ist. Eine Einrichtung des Blauen Kreuzes. Betreutes Wohnen für Suchtkranke. Oder wie Jagusch sagt: „Mein letzter Rettungsanker.“ Dieses Mal soll es für immer sein.
Mehr als ein Jahr ist er nun schon trocken. Er ist angekommen oder mindestens auf dem Weg in ein Leben, in dem sich endlich nicht mehr alles um Alkohol dreht. Mit 14 trank er das erste Mal, mit 16 schon auffällig viel. Die Schule lief nicht, er verließ sie nach der zehnten Klasse, begann eine Lehre als Handelsfachpacker, ehe seine Firma Insolvenz anmeldete. Er heuerte als Hilfsarbeiter beim Maler an, in einer Spedition, beim Gärtner. Nie war etwas von Dauer, weil er trank, wenn er Probleme hatte, weil die Probleme größer wurden, wenn er trank. Ein Teufelskreis.
Stimmen und Bilder im Kopf
Bei vielen Suchtkranken ist nicht ganz klar, ob ihre psychische Verfassung Auslöser oder Folge der Sucht ist. „Die Stimmen und Bilder waren zuerst da“, erinnert sich Jagusch. Wie Blitze, berichtet er, zuckten furchteinflößende Fratzen vor seinem inneren Auge auf. Und die Stimmen in seinem Kopf rieten ihm zu Dingen, die ihm nicht gut taten. Er wollte nie darüber reden, „damit man mich nicht für verrückt erklärt“. In Alkohol konnte er all das stets ertränken. Seit 2007 ist seine Schizophrenie diagnostiziert. Er nimmt heute Medikamente gegen die Depressionen und die Psychose.
„Die Sucht hat mein ganzes Leben bestimmt und viel kaputt gemacht“, sagt er und schaut zu Boden. Zehn Geschwister hat er, der Kontakt zu ihnen war zwischenzeitlich teilweise abgerissen. „30, 40 professionelle Entgiftungen habe ich gemacht“, so Jagusch, „und fünf Langzeittherapien“. Nach der in Warstein vor zehn Jahren war er zwei Jahre lang trocken. Er dachte, er hätte es unter Kontrolle, wenn er ein Bierchen zischte. Hatte er nicht. Elf Mal war er 2020 im Krankenhaus. Binnen einer Stunde trank er drei Flaschen Wodka, weil er nicht mehr wollte, nicht mehr konnte.
Die trockenen Phasen, sagt er, seien die besten in seinem Leben gewesen. Weil sich dann niemand von ihm abwendet, weil der Magen nicht rebelliert, weil er leistungsfähiger ist und er Fahrrad fahren kann. „Aber es gab immer wieder Rückschläge.“ Wenn er euphorisch war, „haben mich meine Geschwister gefragt, ob ich getrunken hätte.“ Hart erarbeitetes Misstrauen. Das weiß er. Aber Schmerzen verursacht es trotzdem.
Das Verlangen ist weg
Modellbau mochte er als Kind schon. Wenn er täglich vier Stunden an der Bismarck arbeitet, berichtet er, dann brauche er dafür sechs Wochen. Nachher geht es noch zum Badminton. Die Struktur des Tages, die Ansprechpartner, die Gesellschaft anderer – das gefällt ihm alles dort. Und es hilft ihm. Das Verlangen, zur Flasche zu greifen, ist weg. Im Frühjahr waren die Bewohner des Falkenroth-Hauses für ein paar Tage an der Mosel im Urlaub. „Das war schön“, sagt er. „Ich war eigentlich nie raus aus Hagen – und wenn dann nur zur Therapie.“
Seit 2009 hat er eine Freundin. Zusammen seien sie durch dick und dünn gegangen. Am Wochenende besucht er sie. „Das hier ist ein neuer Lebensabschnitt für mich“, so Hartmut Jagusch. „Seit langer, langer Zeit mal wieder denke ich an die Zukunft und es geht nicht nur darum, den Tag zu überleben.“
Die Träume von der Zukunft
Im nächsten Jahr will er erste Schritte in die Selbstständigkeit wagen. Vermutlich kann er wieder in der Behinderten-Werkstatt der Caritas arbeiten. Und irgendwann wäre eine eigene Wohnung schön, mit Balkon oder kleiner Terrasse. Vielleicht sogar mit seiner Freundin zusammen. „Ich will was eigenes auf die Reihe kriegen“, sagt er. Dazu ist es nie zu spät.
<<< HINTERGRUND >>>
> Das Falkenroth-Haus ist eine besondere Wohnform der Eingliederungshilfe, wie es auf der Homepage des Blauen Kreuzes heißt. Es verfügt über insgesamt 35 Wohnplätze: 31 Plätze im Wohnheimbereich, 4 Plätze in zwei stationären Wohngruppen im Hagener Stadtgebiet.
> Die Aufnahme in die unterschiedlichen Wohnbereiche richtet sich nach dem persönlichen Hilfebedarf. In allen Wohnbereichen sind verschiedene Unterstützungsformen möglich. Aufgenommen werden Frauen und Männer mit chronischer Alkohol-, Medikamentenabhängigkeit, Glücksspielsucht, psychischen Erkrankungen (verbunden mit Suchterkrankung) oder mit einer Polytoxikomanie (multipler Substanzgebrauch).