Herdecke.. Anna-Lena Frömming wird die Olympischen Spiele in Rio wohl verpassen. Die Taekwondo-Kämpferin aus Herdecke scheiterte bei der Farce von Istanbul an absurden Regeln. Jetzt kann nur noch IOC-Boss Thomas Bach helfen.

Wer Anna-Lena Frömming die Laune verhageln will, der muss nur ein Wort sagen: „Istanbul“. Dann presst die sonst so freundlich lächelnde Taekwondo-Kämpferin aus Herdecke, die demnächst ihren 21. Geburtstag feiert, die ­Lippen zusammen, ernste Züge bestimmen ihre Mimik. Die schwarz lackierten Fingernägel graben sich immer mal wieder tief in die Handflächen, während sie erzählt. Den gleichen Effekt haben die Begriffe „Videobeweis“ und „Tatsachenentscheidung“. Wobei das, was beim Olympia-Qualifikationsturnier in der Metropole am Bosporus als Tatsache verkauft wurde, ganz klar unter „Fehlentscheidung“ zu verbuchen ist.

Eine Sekunde war noch zu kämpfen im Halbfinale, Frömming führte 8:6 gegen ihre finnische Gegnerin Suvi Mikkonen. Eine ­Sekunde trennte sie vom Finale und der sicheren Teilnahme an den Spielen in Rio. Dann kam es zum Eklat. Mikkonen zerrte Frömming im Rückwärtsfallen an sich und riss die Deutsche mit zu Boden. Ein klarer Regelverstoß, den die Kampfrichterin nicht ahndete. Der Tritt an den Kopf aber, den Mikkonen im Fallen platzierte, wurde ­gewertet. 9:8 für die Finnin, aus der Kampf, aus der Traum für Anna-Lena Frömming.

Einspruch? Abgelehnt.

Denn das mit dem Regelwerk im Taekwondo ist seit einer Regeländerung vor rund zwei Jahren eine Krux: Den nachträglichen Protest hat der Weltverband WTF grundsätzlich untersagt. Kampfrichter können während des Kampfes „eine Karte ziehen“, wie es im Fachjargon heißt, um sich einen ­Videobeweis einzuholen – allerdings nur auf eigene Initiative. Zweifelt der Kampfrichter nicht an seiner Einschätzung, gilt die Tatsachenentscheidung als ultimativ. So geschehen in Istanbul.

Da half es auch nicht, dass sich Holger Wunderlich, Sportdirektor der Deutschen Taekwondo Union (DTU), unmittelbar an die Wettkampfleitung des ausrichtenden Weltverbandes wandte. Diese bestätigte nach dem Studium der Aufnahmen den Regelverstoß, entschuldigte sich – und zuckte mit den Schultern. Nichts zu machen. „Unbefriedigend“, sagte Wunderlich, „sehr bitter für uns alle.“

Bundestrainer: „Viel Pech im Spiel“

Auch Damen-Bundestrainer Carlos Estevez darf während eines Kampfes eine Karte ziehen und erhält diese zurück, sofern der Videobeweis ihm recht gibt. Diese hatte er nach einem vermeintlichen Kopftreffer Frömmings schon in der ersten Runde verspielt. Das Ass im Ärmel, es fehlte in der letzten Aktion. „Da war viel Pech im Spiel“, sagt er.

Keine Zweifel hegen Estevez und Wunderlich an der Absurdität der Tatsachenentscheidung. Estevez formuliert ziemlich deutlich: „Schwachsinn. Die Ungerechtigkeit des Jahres. Ich habe ohne Erfolg an den olympischen Gedanken appelliert.“

Daheim in Herdecke weiß Anna-Lena Frömming nicht, wohin mit ihrem Frust. Wem die Schuld geben? Der Kampfrichterin? Dem Weltverband? Sich selbst? Sie zweifelt jedenfalls nicht an der eigenen Stärke. „Man kann immer mal verlieren, wenn die Gegnerin besser ist“, sagt sie. Aber so? „Ich rede noch immer nicht viel darüber.“

An ihrer trüben Gemütslage konnten auch die vielen aufmunternden, Trost spendenden Worte, die sie per Telefon, Facebook und Whatsapp erreichten, nur bedingt etwas ändern. Ein bisschen Abstand zum Geschehenen möchte die Sportsoldatin im Rang eines Stabsunteroffiziers noch gewinnen, ehe sie ab dem 14. Februar die Turkish Open in Angriff nimmt.

In Antalya, nicht in Istanbul.

Thomas Bach soll Wild Card durchwinken

Gerd Kohlhofer, Präsident der Bayrischen Taekwondo Union, der Anna-Lena Frömmings Nürnberger Verein TaeKwonDo Özer untersteht, macht sich derweil stark für die Kämpferin aus Herdecke. „Ich habe den Weltverband und das IOC angeschrieben und ein bisschen auf die Tränendrüse gedrückt“, gibt Kohlhofer zu, „mir tat Anna-Lena nach dieser miserablen Kampfrichterleistung einfach leid.“

Das Schreiben sollte seine Adressaten erreicht haben, inklusive Fotos und Video der Fehlentscheidung, „eine Antwort wäre zunächst das Wichtigste“. Zwar muss auch Kohlhofer einräumen, dass das Regelwerk unumstößlich ist, aber für Frömming könnte sich noch eine Hintertür öffnen. Der Taekwondo-Weltverband WTF und das Internationale Olympische Komitee, dem Thomas Bach (Bild) vorsitzt, vergeben insgesamt vier Wild Cards für die Spiele in Rio. Der WTF hat freie Wahl bei den Kandidaten, das IOC winkt sie schließlich durch. „Dr. Bach und ich kennen uns“, sagt Kohlhofer, „er war auch Leistungssportler und wird wissen, was in Anna-Lena gerade vorgeht.“