Sehr offen erzählt die Arnsbergerin Lisa Müller (30), warum es ihr besser erscheint, im Heim statt bei ihrer Mutter erwachsen geworden zu sein.

Die Arnsbergerin Lisa Müller wuchs im Kinderheim auf. Was andere schockiert, war für sie das Beste – zumindest rückblickend. Sie berichtet, wie aus ihr wurde, was sie heute ist.

„Ich war schlimm damals. Trotz war mein Antrieb. Das Ziel: Auflehnung, Provokation. Manches, was ich den Menschen um mich herum angetan habe, tut mir heute leid. Aber ich bin stolz auf mich, dass ich jetzt mitten im Leben stehe. Trotz einer Jugend im Kinderheim. Oder viel eher sogar: wegen. Kinderheim – das klingt für viele furchtbar. Ich weiß, dass dieses eine Wort genügt, damit sie sich ein Urteil über mich und mein Leben erlauben, obwohl sie meine Geschichte nicht kennen, obwohl sie nicht wissen, warum ich dort war. Dabei war es die beste Zeit, die ich hätte haben können. Nur damals wusste ich das noch nicht.

„Ich habe Theater gemacht, habe provoziert“

Der Tag, mit dem alles beginnt, ist der, an dem sich meine Eltern trennen. Zwölf Jahre alt war ich damals. An den Tag selbst erinnere ich mich nicht mehr. Aber ich erinnere mich gut an das Gefühl – und mit dem konnte ich nicht umgehen. Ich war ein Papa-Kind, aber bei ihm konnte ich nicht sein, weil er wegen der Arbeit kaum zu Hause war. Bei Mama wollte ich nicht sein, wir hatten nie die perfekte Bindung.

All diese Gefühle mussten aus mir heraus. Wie? Ich habe Theater gemacht, habe provoziert, wo es nur ging, habe immer das Gegenteil von dem gemacht, was Mama mir sagte. Und nicht nur das: Mehrmals bin ich von zu Hause abgehauen, auch tagelang. Alle haben mich gesucht. Es gab keine andere Lösung: bei Mama oder Papa konnte ich nicht bleiben, entschied das Jugendamt. Am Anfang war es im Heim die Hölle. Ich fühlte mich nicht wohl, wollte dort nicht sein. Die Tage waren genau strukturiert, das kannte ich so nicht: Abendessen gab es jeden Tag um 18 Uhr. Einmal in der Woche war Waschtag. Es empfahl sich, beide Termine nicht verstreichen zu lassen.

„Regeln waren für mich da, um sie zu brechen“

Regeln waren für mich da, um sie zu brechen. Ich kam zu spät zurück ins Heim und rauchte mit den Älteren. Montags gab es Taschengeld: wir sind zum Supermarkt, kauften Eistee, klauten Wodka – und kamen betrunken zurück. Ich ritzte mir die Arme auf, riss tagelang aus dem Heim aus, unterschlug ein Handy, stahl den Generalschlüssel, kletterte nachts durch das Fenster und über das Dach des Gebäudes, um bei meinem Freund sein zu können, der sein Zimmer in einem anderen Trakt hatte. Hausarrest, Sozialstunden, Fernseh- und Computerverbot – wirkte bei mir alles nicht. Erst mit 16, 17 wurde ich etwas vernünftiger, etwas ruhiger.

+++ Alle Folgen der Serie „Mein Leben“ gibt’s unter wp.de/mein-leben +++

Wer mir damals gesagt hätte, wie mein Leben mit 30 aussehen würde, dem hätte ich einen Vogel gezeigt. Ich arbeite seit Oktober Teilzeit in einer Bäckerei und habe die Aussicht, stellvertretende Filialleiterin zu werden. Ich bin Mutter eines achtjährigen Mädchens, dem ich Sätze sage wie: von nichts, kommt nichts. Sie hat nicht viel Kontakt zu ihrem Papa: Wir haben uns getrennt, weil es nicht mehr funktionierte. Mein ­Papa wohnt mit seiner neuen Frau nur ein paar Häuser weiter, meine Kleine liebt es, dort zu sein. Es ist perfekt.

„Diese neue Frau meines Vaters hasste ich zunächst“

Diese neue Frau meines Vaters hasste ich zunächst. Das war MEIN Papa, sie sollte nicht bei ihm sein dürfen, während ich das nicht durfte. Nach Kräften habe ich versucht, sie wegzuekeln, aber ich habe es nicht geschafft. Dafür bin ich ihr unendlich dankbar, denn sie ist mir in dieser Zeit eine richtige Mutter geworden: immer da, immer hilfsbereit, bis heute. Wie die Betreuer im Heim.

Zwanzig Kinder auf einem Haufen. Oft gab es Streit und Zickereien. Aber die Betreuer haben einen unglaublichen Job gemacht. Dienstagabends war immer für längere Telefonate mit Mama und Papa vorgesehen, an Wochenenden konnte ich sie besuchen. Ich weinte, wenn ich zurück ins Heim musste. Aber die Betreuer haben mich getröstet, haben mich gefragt, wie das Wochenende war, was wir gemacht haben. Sie haben sich dafür interessiert, wie es mir geht. Bis heute helfen sie mir, wenn ich Rat brauche.

„Zwei Jahre habe ich gar nichts gemacht“

Ein halbes Jahr vor meinem 18. Geburtstag zog ich zu Papa und seiner Frau in eine abgetrennte Wohnung. Die Sonderschule verließ ich ohne Abschluss nach der zehnten Klasse. Den Hauptschulabschluss holte ich an der Berufsschule nach, begann eine Ausbildung zur Servicekraft, die ich aber abbrach. Zwei Jahre habe ich gar nichts gemacht, weil ich nicht wusste, was ich mit meinem Leben anfangen will, weil ich in Therapie musste wegen Depressionen und einer Persönlichkeitsstörung.

Als meine Tochter geboren war, habe ich gewusst, dass ich etwas ändern muss. Die Ausbildung zur Altenpflegerin habe ich abgeschlossen, doch ich wollte in diesem Beruf nicht bleiben. Mir taten die alten Menschen leid, denen man zu Coronazeiten vermummt gegenübertritt. Auf die Anzeige meines jetzigen Arbeitgebers stieß ich zufällig im Internet: bewirb dich in 30 Sekunden, stand da. Hab ich gemacht. Ich kam zum Probearbeiten, war erst Aushilfe und jetzt schon Teilzeitkraft. Für meine Kleine habe ich daher weniger Zeit, als wenn ich von Hartz IV leben würde, aber das selbst verdiente Geld fühlt sich anders an, besser. Außerdem verleiht die Arbeit meinem Leben Struktur.

„Ich bin dankbar für die Geduld der Betreuerinnen und Betreuer“

Manche Menschen sind wirklich geschockt, wenn sie hören, dass ich im Kinderheim groß geworden bin. Sie haben die Klischees von Kinderheimen in den 60er Jahren im Kopf. Mit meiner Realität hat das nichts zu tun. Den Betreuerinnen und Betreuern bin ich dankbar für ihre Geduld. Ich hatte ein Einzelzimmer und eine beste Freundin. Noch immer gibt es regelmäßige Ehemaligentreffen, manchmal besuche ich das Heim einfach so. Wir hatten einen Sportplatz, Pferde und einmal im Jahr einen Urlaub. Meine Eltern hätten mir das so nicht bieten können.“

Aufgezeichnet von Daniel Berg

Die Serie „Mein Leben“

Die Serie „Mein Leben“, die im vergangenen Jahr erschien und den European Newspaper Award gewann, wird unregelmäßig fortgeführt wird. Sie befasst sich mit Menschen, die einen anderen Weg einschlagen, die sich rechtfertigen müssen, für das, was sie sind, was sie sein wollen. Menschen, die klassischen gesellschaftlichen Erwartungen freiwillig nicht entsprechen oder in ein Leben hineingeboren wurden, das ihnen Vorurteile und Diskriminierungen beschert. Kernfrage der Serie: Wie offen und tolerant ist der Umgang miteinander? Alle Serienteile finden Sie unter:
www.wp.de/mein-leben

Bisher erschienene Teile:
Mein Leben..
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… als homosexuelle Frau
… als Autist
… als Weltverbesserer
… als junger Konservativer
… als schwarze Frau
… als Arbeiterkind an der Uni
… als ältere Arbeitnehmerin
… als Frau, die keine Kinder will
… als Muslim
… als Jude
… als faulster Deutscher
… als HIV-Infizierter
… als Kleinwüchsiger
… als früheres Heimkind