Bayreuth. . Auf Regisseuren lastet in Bayreuth ein enormer Erlösungsdruck. Er ist angesichts der Schnelllebigkeit heutiger Bilder unerfüllbar. Aber die Urschreitherapie von Teilen des Festspielpublikums ist auch keine Lösung. Ausländische Gäste zittern regelmäßig, wenn Dauernörgler die Trillerpfeifen zücken.
Erträgt man Wagner-Inszenierungen in Bayreuth nur noch mit Geschrei? Die Trillerpfeifen, mit denen einige Wagnerianer nach der „Götterdämmerung“ die „Ring“-Inszenierung von Frank Castorf ausgepfiffen haben, bilden eine neue Eskalations-Stufe in dem Krieg, der im Publikum auf dem Grünen Hügel seit Jahren tobt. Die Psychologie des Buhens ist dabei berechenbar.
Die zahlreichen Bayreuth-Besucher aus England, Frankreich und Italien zittern regelmäßig vor den deutschen Urschreien, wenn der Vorhang auf dem Grünen Hügel nach Premieren fällt. Denn dann beginnt das zweite Stück des Abends: der Auftritt der Unzufriedenen, die ohne Rücksicht auf die Gefühle der Besucher-Mehrheit in ein derart aggressives Gebrüll ausbrechen, dass man sich unter Hooligans wähnt und nicht unter Opernfreunden.
Verabredete Aktionen
Natürlich kommen nicht 30 Bayreuth-Besucher unabhängig voneinander auf die Idee, mit einer Trillerpfeife in der Smoking-Jackentasche in die „Götterdämmerung“ zu marschieren. Diese Aktionen sind verabredet. Es handelt sich um eine relativ kleine, aber desto lautere Gruppe. So entsteht dann trotz allen Beifalls und der Bravos der Eindruck wütenden Missfallens.
Deutsche Urschreie
Was bringt Herren im guten Anzug und Damen im Abendkleid dazu, wider jede Kinderstube loszubrüllen? Das Missfallen zielt auf die Wagner-Schwestern als Festspiel-Leiterinnen und deren Regisseurs-Auswahl, die vorgeblich zu modern ist. Stimmen solche Vorwürfe überhaupt? Betrachten wir drei der aktuellen Regisseure. Frank Castorf ist für den „Ring“ eingesprungen, nachdem der Vertrag mit Wim Wenders nicht zustande kam. Er pflegt ein Image als „böser Junge“ des Theaters, kann diesen Ruf jedoch seit Jahren nicht mehr wirklich einlösen. Sein „Ring“ steckt nicht nur voller guter Einfälle, aber auch.
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Altmeister Hans Neuenfels ist dagegen ein Provokateur aus Leidenschaft. Sein ebenso kluger wie hintersinniger Ratten-„Lohengrin“ hat bei der Premiere derart aufgerüttelt, dass vornehme Senioren den Stinkefinger in Neuenfels’ Richtung reckten. Inzwischen ist der „Lohengrin“ zum Publikums-Liebling avanciert. Jan Philipp Gloger wiederum, der hochbegabte junge Hagener Regisseur, ist dagegen dezidiert kein Stückezertrümmerer. Dennoch hagelte es vor einem Jahr Buhs für seinen „Fliegenden Holländer“. Dabei begründete sich die Kritik an Gloger durchaus konträr: Den einen war er zu brav, den anderen zu modern und den dritten zu unbekannt. Jetzt war davon nichts mehr zu spüren. Ein regelrechter Bravo-Segen ging über den „Holländer“ nieder.
Selbst der orthodoxeste Wagnerianer weiß, dass kein Regisseur es allen gleichzeitig Recht machen kann. Das Publikum will große Regie-Namen und Bilder, die nicht weh tun, die aber trotzdem neu und unverbraucht sind. Diese Erwartungshaltung ist nicht zu befriedigen. Katharina Wagner und ihre Schwester Eva haben jedenfalls den Anspruch, die spannendsten Regisseure der Gegenwart für Bayreuth zu verpflichten. Mit Jonathan Meese, der gerne mit Nazi-Symbolik um sich wirft, droht daher für den „Parsifal“ 2016 ein weiteres Regie-Schreckgespenst.
Was trägt Merkel bei den Festspielen?
Soll man Wagners Opern also nur noch halbszenisch geben, mit ein bisschen Lichtstimmung und zeitlosen Kostümen? Dann wäre das Gesamtkunstwerk futsch. Aber noch mit den lautesten Trillerpfeifen wird man den Grünen Hügel nicht zu Bärenfellen und Flügelhelmen zurück brüllen können. Wir leben in einer Gegenwart, in der alle Bilder jederzeit verfügbar sind. Das setzt Bayreuth-Regisseure unter einen Erlösungs-Druck, den sie keinesfalls erfüllen können – denn angesichts der Überflut und Schnelllebigkeit der allgegenwärtigen Bilder existiert keine verbindliche Ikonographie mehr.
Bewährungsprobe steht bevor
Gerne vergisst der Beton-Wagnerianer im Übrigen, dass in der Ära Wolfgang Wagners die Inszenierungen ebenso umstritten waren wie heute. Irgendwie gehört die Aufregung über die Regie dann doch dazu. Nur Trillerpfeifen sind schlechter Stil. Castorfs „Ring“ allerdings hat seine wahre Bewährungsprobe noch vor sich: den zweiten Vorstellungs-Zyklus. Dann sitzt traditionell ein Publikum im Festspielhaus, das die Noten besser kennt als mancher Sänger.