Hagen/Essen. Wie muss der Staat mit Clankriminalität umgehen? Der ehemalige Hagener und Essener Polizeipräsident Frank Richter hat da eine klare Meinung.
Frank Richter (64) ist Ende Oktober 2022 nach mehr als 46 Dienstjahren bei der Polizei in den Ruhestand gegangen. Aber auch dort lässt den ehemaligen Polizeipräsidenten von Hagen und Essen und langjährigen Landesvorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei (GdP) sein altes Metier nicht los. Derzeit ist er als Clan-Experte gefragt. In seiner letzten Station als Behördenchef in Essen hatte er es zunehmend mit kriminellen Machenschaften von Großfamilien zu tun.
Bundesinnenministerin Faeser (SPD) will Angehörige krimineller Clans auch dann abschieben, wenn diese keine Straftaten begangen haben. Was halten Sie davon?
Frank Richter: Mehr Populismus geht nicht. Die meisten Mitglieder solcher Großfamilien haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Wie will Frau Faeser die abschieben? Ein anderer Teil ist staatenlos beziehungsweise man weiß nicht, wo sie herkommen. Diese Menschen kann man nicht einfach wegzaubern. Mit solchen Vorschlägen ist das Problem nicht gelöst.
Die einen sagen: Das Thema Clankriminalität wird von Polizei und Politik aufgebauscht. Von Ihnen stammt der Satz: „Die Entwicklung wird uns überrennen.“ Was stimmt denn nun?
Da ist nichts aufgebauscht. Es ist in den letzten 30 Jahren eine Parallelwelt mit einem eigenen Rechtssystem und einem anderen Wertekanon entstanden. Unser Staat hat diese Entwicklung verschlafen. Kriminelle Clans – und das unterscheidet sie von anderen mafiösen Strukturen – wollen zeigen: Die Straße gehört uns, die Polizei hat hier nichts zu suchen. Ein Beispiel: Ein Streifenwagen fährt zu einem Einsatz wegen einer Verkehrsbehinderung. Innerhalb kürzester Zeit stehen 70, 80 Jugendliche um ihn herum und versuchen, die Maßnahme zu stören. Oder ein „Klassiker“: Ein 25-Jähriger, der Transferleistungen bezieht, wird wegen eines Verkehrsverstoßes in einem über 100.000-Euro teuren AMG-Mercedes angehalten. Er gibt den Beamten das 20-Euro-Bußgeld und zusätzlich 100 Euro – mit den Worten: Ihr habt ja sonst nichts zu lachen. Wollen wir es dulden, dass der Staat verhöhnt wird und weiter munter kriminelle Geschäfte getätigt werden?
Von welchen Delikten sprechen wir? Geldwäsche? Drogenhandel? Sozialbetrug?
Alles, womit Geld zu machen ist. Das können fingierte Verkehrsunfälle sein, Schutzgelderpressung, Geldwäsche in Barbershops und Restaurants, Drogen-, Waffen- und Menschenhandel, Sozialbetrug und vieles mehr.
Zuletzt sorgten Massenschlägereien zwischen türkisch-libanesischen und syrischen Großfamilien in Castrop-Rauxel und Essen für Schlagzeilen. In einem Fall soll ein Streit unter Kindern Auslöser gewesen sein. Glauben Sie das?
Bei Aussagen von Beteiligten bin ich vorsichtig. Wir dürfen uns nichts vormachen: Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Großfamilien geht es um Machterhalt, Marktanteile und um verletzte Ehre.
Kurz danach hieß es, dass ein Friedensrichter den Streit beigelegt hat. Wie haben Sie das aufgefasst?
Das war die Krönung der Verachtung unseres Staates. Eine Bankrotterklärung, wenn ein angeblicher Friedensrichter Recht spricht. Und eine Unverschämtheit zu sagen: „Die Polizei kann weiter ermitteln, aber wir haben jetzt Ruhe.“
Wie finden Sie den Begriff Clankriminalität? Werden dadurch auch unbescholtene Mitbürger, die einen bestimmten Nachnamen tragen, stigmatisiert – wie kritisiert wird?
Natürlich haben wir in meiner Zeit als Polizeichef von Essen darüber diskutiert, ob der Begriff diskriminierend ist. Medienspezialisten haben uns gesagt: Behaltet den Begriff! Den versteht man. Es geht nicht darum, Menschen in eine bestimmte Ecke zu stellen. Sondern darum zu vermitteln, dass wir hier Spielregeln in Form von Gesetzen haben und es Konsequenzen haben muss, wenn man sich nicht daran hält. Wir haben uns in der Vergangenheit zu sehr mit Begrifflichkeiten beschäftigt und das eigentliche Kernproblem nicht angefasst: Wie bekämpfe ich Clankriminalität und wie gehe ich mit den Opfern um?
Findet denn bislang die Opferperspektive Berücksichtigung?
Nein, die liegt brach. Es gibt Opfer in den sehr hierarchisch organisierten Familien – Stichworte: Ehre, Zwangsheirat. Es gibt ältere Menschen, die bei kriminellen Handlungen abgezockt werden. Und auch der Staat ist Opfer, wenn sein Sozialsystem geplündert wird.
Wie konnte sich in den vergangenen 30 Jahren diese Parallelwelt entwickeln?
Wir haben Menschen, die zu uns gekommen sind, nicht klar genug gemacht, wie unsere Spielregeln aussehen. Wie sollen das auch beispielsweise Geflüchtete aus dem arabischen Raum wissen, wenn in ihren Heimatländern der Staat bei rechtlichen Dingen sagt: regelt das untereinander! Und es wurde hier mit Blick auf Kontrollen und Sanktionen nicht genug dagegen getan, dass unser Sozialsystem und unsere Gutmütigkeit ausgenutzt wurden.
NRW-Innenminister Reul (CDU) hat die „Strategie der 1000 Nadelstiche“ ausgerufen? Ist das auch Populismus?
Er drückt damit nur aus: Der Staat schaut hin. Wir hatten in Essen Stadtteile mit einem hohen Beschwerdeaufkommen wegen Tumultdelikten. Wir haben von Einwohnern gehört, dass sie Angst haben, aus dem Haus zu gehen. Es war notwendig, dass sie bei vermehrten Polizeikontrollen gesehen haben: der Staat ist da. Er kümmert sich. Auch wenn ein 30 Jahre altes Problem nicht von heute auf morgen gelöst ist.
Bundesjustizminister Buschmann (FDP) meint, man müsse gegen kriminelle Clans „unkonventionell vorgehen“. Zum Beispiel durch einen Entzug von Vermögenswerten. Was halten Sie davon?
Ideen, wie man Geldströme unterbindet, höre ich seit Jahren. Ich sage dann: Lass es uns machen und nicht nur darüber reden. Wenn ich Sie morgen mit einem AMG-Mercedes antreffe und Sie haben neben sich einen Geldkoffer mit 250.000 Euro liegen, möchte ich gerne von Ihnen wissen, woher Sie es haben. Und wenn Sie keine gute Ausrede haben, kassiere ich das erst einmal ein.
Es gibt Clan-Hotspots in Berlin, Essen und Bremen. Müssen wir damit rechnen, dass sich Clan-Kriminalität weiter ausbreitet?
Natürlich. Die macht nicht an Stadtgrenzen Halt. Es wird da weitergehen, wo die Kriminellen gute Voraussetzungen finden, ihr gewaschenes oder illegal erhaltenes Geld anzulegen. Wenn eine Kommune sagt: Damit haben wir nichts zu tun – dann ist das blauäugig.
Also eine Null-Toleranz-Politik, wie es immer heißt?
Mit solchen Begriffen tue ich mich schwer. Ich gehe davon aus, dass es keine Toleranz gibt, wenn jemand Gesetze missachtet. Als langjähriger Gewerkschafter sage ich: Unser Sozialsystem ist wichtig und richtig. Es gibt kaum ein Land, dass so viele Chancen bietet. Ich möchte nur nicht, dass diese Menschen durch ihre kriminellen Machenschaften unser Sozialsystem kaputtschlagen.
Was muss zur Bekämpfung von Clankriminalität getan werden?
Die Zeit behördlicher Eitelkeiten und des Aneinander-vorbei-Arbeitens muss vorbei sein. Also: Wir brauchen eine enge Zusammenarbeit von Polizei, Kommunen, Zoll- und Steuerfahndung. Um effektiver zu werden, müssen wir bei der Organisierten Kriminalität Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften bilden. Und: Wenn man Clankriminalität zum Landesschwerpunkt macht, muss man mehr Personal einsetzen. Aber wir brauchen einen langen Atem.