Hagen. Das Theater Hagen nimmt das Stichwort Höllenfahrt beim Don Giovanni wörtlich. Warum das Auto als Potenzsymbol Nummer 1 eine Rolle spielt.

Wie ein mahnender Fingerzeig ragt der tote Baumstumpf hoch in den Bühnenhimmel. Daran setzt Don Giovanni seine Karre fest, lange bevor der Komtur ihm den Todeskuss gibt. Das Theater Hagen nimmt in seiner Neuinszenierung von Mozarts populärer Oper jetzt den Begriff Höllenfahrt wörtlich. Die Produktion ist bildstark, gut gearbeitet und musikalisch überzeugend, das Publikum feiert einen großen Opernabend mit Beifall im Stehen.

Mozarts „Don Giovanni“ behauptet eine zentrale Stellung in der westlichen Philosophie- und Kulturgeschichte. Er gilt als Inkarnation des modernen Menschen in der Oper, seine sexuellen Grenzüberschreitungen werden als Emanzipation von den Beschränkungen der christlichen Moral verstanden und die von ihm missbrauchten Frauen als bedürftige Geschöpfe auf der Suche nach Erlösung. Kein Wunder, dass Inszenierungen des Stoffes meist dezidiert aus männlicher Perspektive erfolgen, der Antiheld wird zum Freiheitskämpfer, sein aufmüpfiger Diener Leporello zum Klassenkämpfer gegen den Absolutismus.

Weiblicher Blick auf den Mythos

Die Hagener Interpretation erarbeitet hingegen einen weiblichen Blick auf den Mythos vom Don Juan. Angela Denoke, die berühmte Sopranistin, tritt zunehmend als Regisseurin hervor. Für Hagen stellt sie mit dem Bühnenbilder-Team Timo Dentler und Okarina Peter den Don Giovanni überzeugend in eine Film-Kulisse. Die Szene ist auch eine Verbeugung vor Quentin Tarantinos „Death Proof“, wo ein Frauenmörder seine Opfer mit dem Auto erlegt, bevor er an ein weibliches Trio gerät, das den Spieß umdreht. Auf der Drehbühne kreist der gegen den Baum gefahrene Dodge so ausweglos wie Don Giovanni in seinem Narzissmus um sich selbst. Sehr schön, wie sich hier das Auto als Potenzsymbol Nummer 1 festfährt. Es gibt eine Straße, aber die führt nirgendwohin. Schon während der Ouvertüre erscheinen wie Geister die Schemen der Frauen, die Don Giovanni benutzt und dann weggeworfen hat.

Sexismus im Kulturbetrieb

Im Zeitalter von „Me Too“ und immer neuen Enthüllungen über sexistisches Verhalten unantastbarer Helden im Kulturbetrieb liegt es nahe, Don Giovanni zeitaktuell zu spiegeln. Genau das macht Angela Denoke jedoch nicht. Sie interessiert sich vielmehr für die betroffenen Frauen: Zerlina, Donna Anna, Donna Elvira und das komplizierte Graufeld ihrer Beziehung zum adligen Verführer zwischen Einverständnis, Lust und Machtmissbrauch. Donna Elvira kann rational genau analysieren, wie Don Giovanni sie demütigt, aber sie kann nicht von ihm lassen. In der Fachsprache nennt man das eine toxische Beziehung. Besonders spannend ist die Inszenierung in ihrer Neubewertung der Rolle des Leporello, der hier ein Aasgeier ist, ein Resteverwerter der Lust seines Herrn. Dabei ist die Interpretation von Angela Denoke erfreulich ergebnisoffen, sie steckt ihre Protagonisten nicht in Schubladen, sondern öffnet Denkräume.

Gut besetztes Ensemble

Das große Mozart-Ensemble ist sehr gut besetzt, angefangen mit Nayun Lea Kim und Kenneth Mattice als bezauberndem Bauernpaar. Netta Or zeigt die Donna Anna mit dramatischem Metall im Sopran-Timbre als Frau, die über die Grenze des Erträglichen hinaus getrieben wird, Anton Kuzenok singt ihren treuen Gefährten Don Ottavio mit Vokuhila-Frisur und feinem lyrischen Tenor. Dong-Won Seo ist als Komtur kein Polter-Bass, sondern ein beängstigend sanfter Rächer. Beniamin Pop gestaltet den Leporello mit berückend schönem lyrischen Bass als fieses Beta-Männchen.

Für Insu Hwang ist der Don Giovanni eine Traumrolle, und er legt ihn mit stimmgewaltigen Akzenten nicht als triebgesteuerten Dämonenbariton an, sondern als Intellektuellen, für den Frauen einfach nur die Beute im Spiel sind. An Angela Davis alias Donna Elvira beißt er sich letztlich die Zähne aus. Die koloratursichere Sopranistin kann stimmlich eine beeindruckende Bandbreite von Emotionen abrufen, und vor allem: Sie kann sich glaubhaft verändern und lässt das Publikum an diesem schmerzhaften Prozess teilhaben.

Generalmusikdirektor Joseph Trafton dirigiert die Hagener Philharmoniker in Mozart-Besetzung nach den Erkenntnissen der Alte-Musik-Bewegung und spielt ebenfalls das Hammerklavier in den Rezitativen. So erblühen schöne Dialoge zwischen den Koloraturen der Solisten und den parallel geführten Holzbläsern. Am besten funktioniert das Dirigat, wenn die Musik psychologischen Zustände nachfühlt: dem Herzklopfen und der Angst bei der Höllenfahrt.

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