Europa lacht über eine Schule in den USA, die Kindern Michelangelos David nicht zeigt. Aber auch bei uns haben Nackte in der Kunst ein Problem.

Nackte Körper sind in den westlichen Konsumgesellschaften allgegenwärtig. In der Kunst jedoch provoziert Nacktheit nach wie vor. Erst vor wenigen Tagen ist in Florida (USA) eine Schulleiterin gefeuert worden, weil sie im Kunstunterricht ein Bild von Michelangelos David-Skulptur zeigte. Für die Schulleitung ist das „pornografisches Unterrichtsmaterial“. Das ist kein Einzelfall. Auch in Europa gibt es Proteste, Anzeigen und Gewalt gegen nackte Tatsachen in Malerei und Skulptur. Im Zeitalter der digitalen Bilderflut gerät offenbar in Vergessenheit, was ein Kunstwerk ist und wie man damit umgeht.

„Hylas und die Nymphen“ heißt ein Meisterwerk von John William Waterhouse aus dem Jahr 1896. Nackte Badenixen ziehen einen bekleideten Jüngling in ihren Teich; was dann passiert, kann sich der Betrachter mühelos vorstellen. Die Manchester Art Gallery hat das Gemälde vor fünf Jahren vorübergehend aus ihrer Ausstellung entfernt, um auf Sexismus in der Kunst aufmerksam zu machen: Die Museen hängen voll mit nackten Frauenkörpern, welche als Männerphantasien geschaffen wurden. Der Aufschrei war groß. Aber nicht im Sinne der Kuratoren. Stattdessen lautete der Vorwurf an das Museum: Zensur.

Anzeigen gegen Bilder

Miriam Cahn ist die Siegener Rubenspreisträgerin 2022. Die Schweizer Künstlerin malt nackte Frauenkörper. Unbestechlich prangert sie Gewalt und Erniedrigung an. Ihr Gemälde „Fuck Abstraction“ zeigt drei nackte Figuren: Ein kräftiger männlicher Körper, gesichtslos, mit erigiertem Glied, stehend, vor ihm zwei kleinere Personen, denen der Mann jeweils eine Hand auf den Kopf drückt. Eine der kleinen Figuren übt kniend Fellatio an dem Mann aus, sie tut es offenbar nicht freiwillig, sie ist gefesselt. Das Bild ist in einer Miriam Cahn gewidmeten Ausstellung im Pariser Palais de Tokyo zu sehen, die noch bis Mai läuft. Gleich sechs Organisationen haben wegen „Verherrlichung von Kinderpornografie“ dagegen geklagt. Das Pariser Verwaltungsgericht entschied vor wenigen Tagen: Das Gemälde bleibt, denn es hängt in einem Kontext. In der Ausstellung wird thematisiert, wie Sexualität als Kriegswaffe eingesetzt wird.

Michelangelos David ist ein Publikumsmagnet.
Michelangelos David ist ein Publikumsmagnet. © ANSA | Marco Bucco

Auch bei Michelangelos David liegen die Dinge nicht so einfach. In bürgerlichen Kreisen herrscht breite Übereinstimmung, dass der nackte Jüngling ein unvergleichliches Wunderwerk darstellt, die bekannteste Plastik der Kunstgeschichte, sechs Tonnen Marmor, meisterlich geformt von einem erst 26- Jahre alten Bildhauer. Die Figur war ursprünglich für die Fassade des Florentiner Doms gedacht, wurde dann aber 1504 auf der Piazza della Signoria aufgestellt. Heute steht David in der Galleria Dell’Accademia, auf dem Platz befindet sich eine Kopie. Auch Königin Victoria von England erhielt im 19. Jahrhundert eine Kopie, aus Gips. Davids bestes Stück schockierte die Königin derart, dass man ein Feigenblatt anfertigen ließ, das um die Lenden gelegt werden musste, sobald das hoheitliche Auge darauf fiel.

Nacktheit gibt es seit der Antike

Nacktheit gibt es seit der Antike in der Kunst. Ihr Zweck ist nicht die anatomisch genaue künstlerische Erforschung eines konkreten Körpers. Nacktheit in der Antike gilt als ideal oder heroisch, damit sollen Tugenden wie Kraft, Schönheit oder Reinheit visualisiert werden. Die antike Nacktheit ist übrigens männlich, und dieses Ideal greifen die Renaissance-Künstler auf. Aber inzwischen hat sich das Weltbild fundamental verändert. Das „Ich“ wird entdeckt. Der Mensch wird nun als Individuum betrachtet, kann ein Schicksal haben – und persönliche Schönheit besitzen. Daher ist die männliche Nacktheit in der Renaissance durchaus heroisch, aber individualisiert. Das Konzept, dass Nacktheit Heldenmut besonders unterstreicht, wirkt übrigens fort. Der Nürnberger Bildhauer Peter Vischer d. J. zeichnete Martin Luther 1524 als neuen Herkules in idealer Nacktheit, umgeben von nackten Tugendallegorien.

Die meisten Nacktbilder von Michelangelo und den Renaissance-Künstlern wurden von kirchlichen Würdenträgern in Auftrag gegeben. Einige Jahrzehnte lang ging das gut, dann änderte sich der Geschmack der Kirchenfürsten. Die sogenannten Hosenmaler traten in Aktion, welche die Genitalien nachträglich verhüllten oder übermalten. Das berühmte Feigenblatt wurde geboren.

Mönch zertrümmert Christus-Penis

Michelangelos auferstandener Christus zum Beispiel ist ausdrücklich nackt in Auftrag gegeben worden. Der religiöse Hintergrund: Der Erlöser ist unbekleidet aus dem Grab auferstanden. Die lebensgroße Figur wurde 1521 in der Kirche Santa Maria sopra Minerva in Rom aufgestellt und provozierte offenbar. Ein Mönch zerstörte das Glied der Statue. Daraufhin knotete man ein Lendentuch aus Stoff um die Leibesmitte. Bis heute trägt Michelangelos verstümmelter Christus ein Lendentuch aus Bronze.

Das Barockzeitalter verhüllte dann nördlich und südlich der Alpen alle möglichen Kunstwerke mit Feigenblättern aus Blech, Gips oder Marmor. Erst nach dem Ersten Weltkrieg verschwindet der Schamschutz wieder. Das Feigenblatt geht übrigens auf die Bibel zurück. Nach dem Sündenfall erkennen Adam und Eva ihre Nacktheit und verhüllen ihre Blöße mit Blättern des Feigenbaums. Für Maler, die das Paradies vor dem Sündenfall darstellen wollen, wird das barocke Nacktheitstabu zum Problem.

Der größte Skandal

Weibliche Nacktheit ist unproblematischer als männliche, galt aber ebenfalls als gefährlich. Dennoch sind Akte äußerst populär, welche die Frauen entweder als geschändete Unschuld oder als verruchte Verführerinnen darstellen. Immer wieder kommt es zu Aufruhr um schöne Nackte. Manets „Olympia“ von 1863 löste einen der größten Skandale der Kunstgeschichte aus, denn „Olympia“ ist eine Prostituierte. Mehr als 30.000 Dirnen gab es in jener Zeit in Paris. Dass Manet unverblümt auf den Beruf seiner Protagonistin verweist, die den Betrachter direkt anblickt, gilt als revolutionär. Der Skandal besteht darin, dass hier keine mystifizierte, verklärte Nymphe zu sehen ist, sondern eine selbstbewusste zeitgenössische Frau. Auch ein Caravaggio hat Prostituierte gemalt, aber nicht in Ausübung ihres Berufs, sondern als Modelle für seine Madonnen. Viele Kunsthistoriker halten die „Olympia“ für den Beginn der modernen Malerei.

Die Venus ist zu erotisch für die Gegenwart

Unbekleidete Frauen sind heute immer noch für einen Eklat gut. So ist Cranachs nackte Venus von 1532 offenbar trotz ihres hohen Alters zu heiß für das 21. Jahrhundert. Die Londoner Verkehrsbetriebe verbannten 2008 Plakate mit der Venus aus der U-Bahn, weil das Motiv Reisende verstören könne, so die Begründung. Die Venus sollte für eine Kunstausstellung werben.

Bei Herren ohne Hosen sind die Schreie noch lauter, da wirkt offenbar der David-Komplex fort. Im Jahr 2012 hat das Leopold-Museum in Wien „Nackten Männern“ eine Ausstellung gewidmet. Ein Werk des Künstlerpaares Pierre et Gilles mit dem Titel „Vive la France“ wird als Plakat der Ausstellung in ganz Wien an Litfaßsäulen geklebt. Das Motiv zeigt drei Fußballer so, wie Gott sie erschaffen hat, sie tragen lediglich Schuhe und Stutzen. Der Proteststurm ist so groß, dass das Museum die Plakate überkleben muss.