Hagen. Ist es Zensur oder gesellschaftliche Anpassung? Kinderbuch-Klassiker sollen politisch korrekt umgeschrieben werden.

Soll man rassistische oder diskriminierende Begriffe aus Kinderbuch-Klassikern streichen? Oder soll man sie stehen lassen und im Gespräch beziehungsweise in Fußnoten kontextualisieren? Zensur oder Anpassung an heutige Lesegewohnheiten? Darüber streitet die Buchbranche derzeit teils erbittert. Leser und Eltern stehen der Debatte oft ratlos und verunsichert gegenüber, denn die Fragestellungen sind komplex und emotional hoch aufgeladen. Ein Plädoyer für mehr Gelassenheit.

Kinderbücher sind magisch. Frühe Gehversuche in der Welt von Geschichten begleiten junge Leser oft ein Leben lang. Jim Knopf, Hanni und Nanni, Pippi und Harry Potter erzeugen eine Sehnsucht, die man nie wieder vergisst. Es gibt sogar eine Fachbezeichnung für das Glücksgefühl, das sich einstellt, wenn man sich ganz und gar in einem erfundenen Universum verliert: Sense of Wonder. Jene Sehnsucht nach dem Staunen, dem Wunderbaren, Unerwarteten, das man erlebt hat, als man mit Jim Knopf und Lokomotivführer Lukas lesend Ozeane und Wüsten durchquerte.

Das meist instrumentalisierte Buchgenre

Doch Kinder- und Jugendbücher sind ebenfalls das meist instrumentalisierte Buchgenre. Das Kinderbuch soll die gesellschaftlichen Normen der jeweiligen Zeit vertreten und Kinder in diesem Sinne erziehen, es soll eher pädagogische Qualitäten entfalten als literarische. Kinderbücher gelten vielfach als Gebrauchsliteratur ohne künstlerischen Anspruch.

Bestimmte Verhaltensmuster kommen aus der Mode

Bei den aktuellen Diskussionen geht es genau darum: Bestimmte Begriffe oder Verhaltensmuster im Kinderbuch entsprechen nicht mehr den Vorstellungen bestimmter Gruppen. Darauf warten, dass sich das Problem von selbst erledigt, will man bei den Klassikern nicht, denn Bücher wie „Jim Knopf“ oder „Pippi Langstrumpf“ verkaufen sich über die Generationen hinweg gut. Interessensgruppen machen Druck, die Texte umzuschreiben.

Dieser Anspruch kollidiert allerdings einerseits mit dem Urheberrecht und der Wirkmacht besonders beliebter Kinderbücher und andererseits mit der hohen emotionalen Aufladung dieser Titel noch im Erwachsenenalter. Jim Knopf, Pippi und Harry Potter sind nicht irgendwer, sie sind lebenslange Freunde, sie haben die Welt verändert, indem sie weltweit gelesen wurden. Deshalb ist die Aufregung so groß, wenn die Helden in Verruf geraten oder umerzogen werden sollen. Die Forderungen nach gesellschaftlich angepassten Kinderbüchern vertragen sich nicht mit den wunderbaren Erinnerungen, die Millionen von Menschen damit verbinden.

Helden werden demontiert

Die Angst dahinter: Durch die subjektive Brille des heutigen Zeitgeistes werden Helden willkürlich demontiert. Jim Knopf und Pippi gelten neuerdings als rassistisch, Pippi zudem noch als Fall für die ADHS-Therapie, aus Roald Dahls Büchern werden Begriffe wie „fett“ gestrichen.

Wer sich darüber aufregt, sollte bedenken: Neuauflagen von Kinderbüchern sind zu allen Zeiten sprachlich angepasst worden, ohne dass das zum Thema wurde, bei Hanni und Nanni wurde zum Beispiel unter anderem die D-Mark in Euro umgewandelt und die ursprünglichen Kohleofenheizungen aus den Internatszimmern entfernt. Indirekte Rede wird hier durch direkte ersetzt, weil die Lesekompetenz der adressierten Altersgruppe gesunken ist. Doch wo ist eine Anpassung an heutige Lesegewohnheiten geübte Praxis und wo wird sie zur Zensur?

Die neue Debatte berührt außerdem zutiefst künstlerische Aspekte wie das Urheberrecht und Erzähltechniken. Die Zensoren gehen davon aus, dass sich dicke Menschen grundsätzlich verletzt fühlen können, wenn in einem Kinderbuch ein Protagonist mit der Vokabel „fett“ beschrieben wird. Nur: Die Begriffe, die ein Autor verwendet, sind im Kontext zu lesen. Sie sagen nur auf einer Erzählebene etwas über die Protagonisten aus, die damit beschrieben werden. Viel wichtiger ist, was sie über diejenigen Protagonisten aussagen, die den Begriff verwenden. Ohne eine derartige Transferleistung ist Literatur nicht möglich.

Der erste Kinderbuchheld mit schwarzer Hautfarbe

Am Beispiel von Jim Knopf lässt sich das gut analysieren. Michael Ende hat mit dem schwarzen Jungen einen Helden geschaffen, mit dem sich Kinder aller Hautfarben identifizieren können und der trotzdem so besonders ist, wie es sich jedes Kind zu sein wünscht. Als das Baby Jim in seinem Postpaket auf Lummerland anlandet, spielt seine Hautfarbe keine Rolle. Nur Herr Ärmel muss das Offensichtliche aussprechen, und er verwendet dafür das heute zu Recht gemiedene N-Wort. Nun war der N-Begriff 1960, als Jim Knopf das Licht der Welt erblickte, noch nicht problematisiert. Allerdings galt er auch damals als abwertend. Indem Michael Ende den Herrn Ärmel das N-Wort sagen lässt, ist sein Ziel nicht, Personen mit schwarzer Hautfarbe zu beleidigen, sondern er charakterisiert den Herrn Ärmel damit.

Es gibt kaum ein Kinderbuch, das so viel über Gleichberechtigung und Vielfalt erzählen kann wie Jim Knopf. Das ist ein Grund, warum die Geschichte in über 30 Sprachen übersetzt wurde. Das Buch zu kritisieren, weil ein schwarzer und fröhlicher Protagonist rassistische Klischees reproduzieren würde, verkürzt die Geschichte radikal. Jim Knopf ist der erste schwarze Held eines Jugendbuches in Deutschland und einer der ersten weltweit.

Am wichtigsten ist aber 1960 - auch für vorlesende Eltern, die vielfach noch in der Hitler-Jugend sozialisiert wurden - , dass Jim kein Haudrauf-Held ist, sondern oft Angst hat. Sein Heldenmut besteht darin, sich seinen Vorurteilen zu stellen, zum Beispiel bei dem einsamen Scheinriesen Tur Tur.

Herr Tur Tur und die Vorurteile

Herr Tur Tur erklärt Jim, wie Ausgrenzung aus Vorurteilen entsteht. „Eine Menge Menschen haben doch irgendwelche besonderen Eigenschaften. Herr Knopf, zum Beispiel, hat eine schwarze Haut. So ist er von Natur aus und dabei ist weiter nichts Seltsames, nicht wahr? Warum soll man nicht schwarz sein? Aber so denken leider die meisten Leute nicht. Wenn sie selber zum Beispiel weiß sind, dann sind sie überzeugt, nur ihre Farbe wäre richtig und haben etwas dagegen, wenn jemand schwarz ist. So unvernünftig sind die Menschen bedauerlicherweise oft.“

Wie sollen Verlage mit Begriffen in Büchern umgehen, die als nicht mehr verwendbar gelten? Der Thienemann-Esslinger-Verlag, bei dem Jim Knopf erscheint, hat dazu einen eigenen Bereich auf der Homepage eingerichtet: „Im Spannungsfeld zwischen Werktreue und Leserorientierung können wir kaum beides gleichzeitig tun: den Text des Klassikers in seiner ursprünglichen Form bewahren und ihn neuen Generationen leicht zugänglich machen. Deswegen versuchen wir immer, eine dem jeweiligen Text angemessene Lösung zu finden und sie dann in Absprache mit der Autorin/dem Autor oder ihrem/seinem Nachlass umzusetzen.“

Was trauen wir Kindern zu?

Interessant ist an der Debatte, dass sie den Kindern und Jugendlichen wenig zutraut, kaum Kompetenz und auch kaum Urteil, mit problematischen Begriffen eigenständig adäquat umzugehen, einen Text aus seinem Zeitbezug heraus zu lesen. Kein Kind dürfte zum Rassisten werden, nur weil der unsympathische Herr Ärmel ein gemeines Schimpfwort verwendet.