Münster. Muss das Land NRW Verdienstausfälle in der Fleischindustrie während der Pandemie begleichen? Das Oberverwaltungsgericht Münster sagt: nein!
Herr M. ist am Freitagmorgen allgegenwärtig im Oberverwaltungsgericht Münster, auch wenn er nicht körperlich anwesend ist. Verhandelt wird die Klage eines Subunternehmens in der Fleischindustrie auf Corona-Entschädigungen gegen das Land NRW verhandelt wird. Es geht um Herrn M.’s Verdienstausfall während seiner behördlich angeordneten mehrwöchigen Quarantäne in der Pandemie und um die Frage, wer diesen zu begleichen hat. Der Arbeitgeber oder das Land?
Der rumänische Staatsbürger M. arbeitete als Mitarbeiter eines Subunternehmens am Produktionsstandort Rheda-Wiedenbrück der Unternehmensgruppe Tönnies. Er befand sich im Juni 2020 gerade in seiner Spätschicht und zerlegte „am Band Lachse“ – so heißt es im vorinstanzlichen Urteil des Verwaltungsgerichts Minden –, als er nach einem Corona-Massenausbruch in dem Werk in häusliche Quarantäne geschickt wurde. Zeitgleich wurde der Betrieb von den Behörden stillgelegt.
Landschaftsverband lehnt Antrag des Subunternehmens ab
Sein Arbeitgeber war damals laut Urteil „eine Zweigniederlassung eines rumänischen Unternehmens“ mit Sitz in Rheda-Wiedenbrück, die seit dem Jahr 2014 mit der Unternehmensgruppe Tönnies geschäftlich verbunden war. Das Subunternehmen musste gemäß dem Infektionsschutzgesetz NRW weiter den Lohn zahlen und Sozialabgaben entrichten.
Als der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) einen Antrag des Subunternehmens auf Lohnentschädigungszahlungen ablehnte, klagte Herrn M.‘s Arbeitgeber auf eine Erstattung von 574,44 Euro (Netto-Verdienstausfall) plus 390,39 Euro geleisteter Sozialabgaben. Das Verwaltungsgericht Minden gab der Klage statt.
730 Mitarbeiter positiv getestet
Die Bilder von verschlossenen Werkstoren am Tönnies-Stammsitz in Rheda-Wiedenbrück gingen im Sommer 2020 um die Welt. Bei einer Reihentestung des Gesundheitsamtes des Kreises Gütersloh am 16. Juni 2020 waren 730 mit der Fleischzerlegung beschäftigte Mitarbeiter positiv getestet worden.
Alle Beschäftigten, die zu dem Zeitpunkt in dem Betrieb tätig waren, mussten in Quarantäne. Auch Mitarbeiter wie Herr M., der „nur“ als „ansteckungsverdächtig“ galt. Herr M. befand sich vom 18. Juni bis zum 24. Juli 2020 in „häuslicher Absonderung“ – so der juristische Begriff. Laut Urteil des Verwaltungsgerichts Minden soll Herr M. seinerzeit mit seiner Familie in einer eigenen Wohnung gelebt haben, nicht in einer „Firmenunterkunft“.
7000 Klagen bei zwei NRW-Verwaltungsgerichten
Auf dem Werksgelände des fleischverarbeitenden Betriebes Westfleisch in Coesfeld hatte es einen Monat zuvor auch einen Corona-Massenausbruch gegeben. Seitdem ist strittig, ob die Arbeitgeber den Verdienstausfall ihrer Beschäftigten begleichen müssen oder das Land NRW. 7000 Klagen, so der Vorsitzende Richter des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster, Dr. Martin Schnell, sind bei den Verwaltungsgerichten in Minden und Münster derzeit anhängig.
Am Freitag verhandelte das OVG jeweils ein Musterverfahren aus Münster und eines aus Minden, die für die klagenden, für Westfleisch bzw. die Unternehmensgruppe Tönnies tätigen Subunternehmen erfolgreich waren. Am Ende kippte der 18. Senat beide Urteile der Vorinstanz und befand, dass das Land der Fleischindustrie keine Corona-Entschädigungen erstatten muss.
Bezug zu einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 1975
Die betroffenen Arbeitnehmer wie Herr M. hätten bei ihren Arbeitgebern einen Anspruch auf Weiterzahlung des Arbeitslohns, weil sie ohne ihr Verschulden „an der Dienstleistung verhindert“ gewesen seien. Zudem bezieht sich sich der Senat auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs in einem „vergleichbaren Fall“ aus dem Jahr 1975, das sich an der 6-Wochen-Frist für Lohnfortzahlung im Krankheitsfall orientiert habe.
Bei Kay F. Sturmfels, Verteidiger des klagenden Subunternehmens, stößt diese Sichtweise nicht auf Gegenliebe. „Es kann nicht sein, dass das beim Arbeitgeber hängenbleibt“, sagt er, „die Pandemiebekämpfung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“
Seit Ende 2020 nicht mehr bei Subunternehmen angestellt
Herr M. steht seit Ende 2020 nicht mehr bei dem klagenden Subunternehmen in Lohn und Brot. Dem Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom Januar 2022 zufolge ist er seit Anfang 2021 „direkt“ bei der Unternehmensgruppe Tönnies beschäftigt.
Im OVG Münster wird das Subunternehmen von gleich drei Rechtsanwälten einer renommierten Düsseldorfer Kanzlei vertreten. Immer wieder fällt in der gut einstündigen Verhandlung der Name Tönnies. Die Unternehmensgruppe aus Rheda-Wiedenbrück will auf Anfrage dieser Zeitung keine Stellung zu dem vorliegenden Fall nehmen. Man sei „kein Prozessbeteiligter“, heißt es von einem Sprecher. Das Unternehmen Westfleisch antwortet nicht auf eine Anfrage dieser Zeitung.
Mit den Klagen aus der Fleischindustrie wird sich wohl bald das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig beschäftigen müssen. Wegen „grundsätzlicher Bedeutung“ hat das OVG Münster Revision zugelassen.