Hagen. Schwer verletzt und hilflos bleibt ein Fußgänger nach einem Unfall zurück. Fahrer spricht von einem Wildschwein-Crash. Gutachten belasten ihn.

Der erste Verhandlungstag dieses tragischen „Wildschwein-Prozesses“ war beendet, eigentlich, da ging es am Landgericht Hagen doch noch mal in die Verlängerung. Nach Beratung des Schwurgerichts um die Vorsitzende Richterin Heike Hartmann-Garschagen und Diskussion mit dem Sachverständigen Prof. Karl-Heinz Schimmelpfennig fasste das Gericht den Beschluss, dem Vorschlag des Experten zu folgen und ihn mit einem weiteren Gutachten zu beauftragen. „Wird nicht günstig“, sagte Schimmelpfennig. Aber in den sauren Apfel wird nun gebissen.

Es gilt, die Kollision eines Pkw mit je einem Menschen und einem Wildschwein zu simulieren und aus Fahrersicht aus dem Innenraum des Autos aufzuzeichnen. Zweck der Übung ist herauszufinden, ob der Angeklagte K. aus Gummersbach hätte wissen können, dass er vor zwei Jahren kein Wildschwein, sondern einen Menschen mit seinem Auto auf einer Landstraße in Meinerzhagen anfuhr. Dem 66-Jährigen droht eine lange Haftstrafe. Er muss sich wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit Aussetzung und unerlaubtem Entfernen vom Unfallort verantworten. In Betracht komme aber auch versuchter Mord durch Unterlassen, sagte die Vorsitzende Richterin Hartmann-Garschagen.

Es geht um Physik

Es geht in diesem ungewöhnlichen Fall um Physik, um Flugkurven, um Einschlagwinkel, um die Frage, wie viel man bei Dunkelheit und stark beschädigter Windschutzscheibe erkennen kann, aber auch um die genaue Position von Leitplanken oder darum, wie steil eine Böschung ist und wie hoch ein Wildschwein springen kann. Nicht zuletzt steht die Glaubwürdigkeit des Angeklagten und die Plausibilität seiner Einlassungen auf dem Prüfstand. Denn K. sagt, er sei von einem Wildunfall ausgegangen, als er in den frühen Morgenstunden des 14. November 2020 auf dem Weg zur Frühschicht war. Es sei eine wildreiche Gegend, zudem habe ein Kollege auf der Strecke schon mal einen Wildschweinunfall gehabt.

Das Opfer war jedoch kein Tier, sondern ein Mensch. Der Geschädigte flog bei der Kollision, die laut des Kfz-Sachverständigen Lutz Boel­ter bei einer Geschwindigkeit zwischen 65 und 70 km/h passiert sein muss, auf die Motorhaube und Windschutzscheibe und nach dem folgenschweren Aufprall meterweit durch die Luft. Das Opfer muss es buchstäblich aus den Schuhen gehauen haben, denn laut Polizei sei ein Schuh jenseits der Leitplanke gefunden worden, an einer Böschung.

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Sachverständiger belastet Angeklagten

Das Opfer „leidet bis heute unter den Folgen des Unfalls“ und sei vor allem „psychisch belastet“, sagt sein Anwalt Thomas Gärtner. Sein Mandant, der im weiteren Verlauf des Prozesses aussagen wird, soll bei dem Unfall schwere Kopfverletzungen, Prellungen und Platzwunden erlitten haben und bewusstlos und im Dunkeln auf der Fahrbahn liegengeblieben sein. Ein Lkw-Fahrer fand ihn.

Der Angeklagte hingegen setzte seine Fahrt zur Arbeit in eine nahe gelegene Meinerzhagener Fabrik nach der Kollision fort – trotz erheblicher Schäden an seinem Auto. Auf Beweisfotos der Polizei sind Dellen auf der Motorhaube des VW, vor allem aber eine in großen Teilen gesplitterte Windschutzscheibe zu erkennen. Der Kfz-Sachverständige Lutz Boelter sprach von „typischen Schäden bei einem Pkw-Fußgänger-Unfall“. Der Kopf des Fußgängers, betonte Boelter, sei für den Angeklagten beim Aufprall auf die Windschutzscheibe „mit Sicherheit erkennbar“ gewesen. Dem aber widerspricht K.

Den gelernten Maschinenschlosser, der in Begleitung seiner Frau und in Arbeitskleidung erschien, stellte sein Anwalt zu Beginn der Verhandlung mit den Worten vor: „kein großer Redner und sehr introvertiert“. Diesen Eindruck bestätigte K. dann auch im Verlauf des Prozesses. Mitunter wirkte er, der sich zu den Vorwürfen äußerte, weil er laut seines Anwalts „nichts zu verbergen“ habe, teilnahmslos. Ähnlich soll er auch auf die Polizei gewirkt haben, als die ihn kurz nach dem Unfall – wohl auf Hinweis von einem Kollegen von K., der das beschädigte Auto auf dem Firmenparkplatz gesehen hatte – am Arbeitsplatz informierte, dass ein Mensch angefahren worden sei. K. habe „ein bisschen überrascht, aber nicht sonderlich entsetzt“ reagiert, sagte einer der Polizeibeamten.

Streit um Gutachten

Als die Vorsitzende Richterin den Angeklagten fragte, ob es ihn denn nach der Kollision nicht interessiert habe, was da passiert sei, antwortete K.: „Doch, deswegen habe ich ja nachgeguckt.“ Aber nur an seinem Auto. Nach Ankunft auf dem Firmenparkplatz. Er sei geschockt und „nicht mehr richtig beisammen“ gewesen, sagt K., der einen Unfall nicht bestreitet, aber zu dem folgenschweren Moment erklärt: „Auf einmal höre ich einen Knall, und irgendwas Schwarzes ist auf der Scheibe. Es war kein Mensch.“

Aber ein Tier? Opfer-Anwalt Thomas Gärtner hält die Wildschwein-These für „widerlegbar. Sollte sich bestätigen, was in den Gutachten steht, war für den Angeklagten erkennbar, dass es ein Mensch war.“ Sein Gegenüber Stephan Kuhl versucht, die gutachterliche Feststellung anzugreifen. Möglicherweise sei K. ja für einen kurzen Moment am Steuer abgelenkt gewesen. Der Verteidiger des Angeklagten weiß aber auch: „Es wird ein schwieriges Verfahren. Wir haben die Gutachten gegen uns.“