Menden. Mord im Neubaugebiet, überforderte Ärzte. Warum Kathrin Heinrichs in ihrem neuen Krimi tief ins Sozialgewebe des Landlebens bohrt.
Die schmucken Neubaugebiete in den Kleinstädten und Dörfern sind ein Markenzeichen des Sauerlandes. Hier ist die Welt nicht kaputt, hier regieren Wohlstand, Gemeinsinn und Zukunftsdenken. Doch wie sieht es hinter den bodentiefen Fenstern aus? Diese Frage untersucht Kathrin Heinrichs und findet dabei ganz viel Druck. Die bekannte Mendener Krimiautorin beschreibt in ihrem neuen Roman „Am Ende zu viel“ eine Gesellschaft im raschen Wandel, bei dem viele nicht mitrennen können. Wieder machen sich Anton und Zofia auf Mördersuche. Der Senior und die polnische Pflegefrau sind das ungewöhnlichste, aber auch bestimmt das sympathischste Ermittler-Duo der zeitgenössischen Kriminalliteratur.
Genaue Beobachterin
Mit Anton und Zofia hat Kathrin Heinrichs gleich zwei „Brillen“, durch die sie auf ihre idyllische Kleinstadt-Welt blicken kann. Für Zofia aus Polen ist alles neu, viele Sitten und Gepflogenheiten in Deutschland betrachtet sie mit der Neugierde, aber auch mit dem kritischen Blick der Fremden. Ihre Rolle muss sie erst noch finden. Anton ist in seiner Heimat alt geworden. Er hat das Gefühl, dass er nicht mehr dazugehört, nicht nur wegen der körperlichen Einschränkungen. Wenn das Nachbarmädchen plötzlich ein Junge ist, dreht sich für Anton die Welt zu schnell. Notwendige Hilfsmittel wie ein Elektromobil mag er nicht akzeptieren, dafür ist er zu stolz. Er fragt sich oft: Warum gibt es mich noch?
Figuren mit Würde
Kathrin Heinrichs ist eine sehr gute und genaue Beobachterin. Sie denunziert ihre Figuren nicht, sondern stattet sie mit Würde aus, das zeichnet sie als Autorin aus. Auch die Nebenrollen ihrer Handlung haben alle eine eigene kleine Geschichte, sind nicht nur Staffage. So wie Bruno und Will, die sich an der Bushaltestelle zum Plaudern treffen.
Früher ist Bruno mit dem E-Mobil in die Stadt gefahren, um mal was anderes zu sehen. Heute wohnt er in einem Seniorenheim in der Stadt und fährt in sein Heimatdorf, um Will zu treffen und zu beobachten, was sich auf der Straße tut.
Der junge Markus Hammecke passt perfekt in diese Umgebung. Guter Job bei der Bank, Ehrenamt im Sportverein, nach oben geheiratet, ein ambitioniert großes Haus gebaut, zwei Kinder. Warum liegt so einer eines Abends tot auf der beliebten Joggingstrecke des Ortes? Herzinfarkt? Nein, Mord. Dass die Tat überhaupt erkannt wird, ist allein dem Zufall und einem aufmerksamen Bestatter zu verdanken.
Das Dorf hat Konjunktur
Das Dorf hat Konjunktur im Krimi, ob gedruckt oder als TV-Film. Je hinterwäldlerischer, desto besser. Dabei packen die Autoren dann alle Klischees über Land und Leute aus, die sie kennen. Das braucht Kathrin Heinrichs nicht, denn sie beschreibt ihr Milieu von innen. „Tatsächlich war das Vermeiden von Klischees die größte Herausforderung bei diesem Buch“, sagt die Autorin im Gespräch mit unserer Redaktion. „Im Dorf sind heute alle gesellschaftlichen Erscheinungen angekommen, häusliche Gewalt, Handysucht, unvollständige Familien. Es gibt alle Probleme, aber sie sind vielleicht sichtbarer. Und wenn es gut läuft, sind sie leichter mitzutragen. Es ist nicht eine heile Welt, sondern es ist eine kleine Welt.“
Tragödie unter Druck
Alle Protagonisten von „Am Ende zu viel“ verlieren ihre Sicherheiten, ihre ursprüngliche Rolle, können unterschiedlichem Druck nicht mehr standhalten, müssen sich wohl oder übel neu orientieren. Wie sich daraus mitten zwischen gepflegten Vorgärten eine Katastrophe entwickeln kann, das zeichnet Kathrin Heinrichs außerordentlich spannend nach.
Für Anton und Zofia wird die Suche nach dem Mörder zu einem Akt der Emanzipation. „Ich denke schon, dass die Leser honorieren, dass Anton und Zofia Figuren sind, die Tiefe haben, das sind schon Herzensfiguren. Sie entwickeln sich auch. Als Autorin muss ich mich fragen: Was passiert denen, wo stehen sie im Leben. Das sind Figuren, die mitwachsen, mitleben.“
Auf zu neuen Ufern
Kathrin Heinrichs gilt als Autorin, die Wert auf einen leichten, kabarettistischen Unterton legt. Doch sie kann auch anders. Im Mai ist sie mit dem renommierten Glauser-Preis ausgezeichnet worden. „Für eine tragische Geschichte. Das hat mich schon sehr ermuntert, und ich kann mir vorstellen, auch mal was anderes zu schreiben.“
Kathrin Heinrichs: Am Ende zu viel. Blatt-Verlag, 13,90 Euro.
Lesungen: 14. Oktober Dortmund-Lütgendortmund; 20. Oktober Neuenrade; 3. November Iserlohn; 10. November Arnsberg-Neheim; 11. November, Hamburg, Speicherstadtmuseum; 17. November, Attendorn; 8. Dezember, Eslohe-Wenholthausenwww.kathrin-heinrichs.de