Warum schreien die Wagnerianer eigentlich so laut. Sie haben doch alles. Gedanken zur Psychologie des Buhens

Iréne Theorin tritt vor den Vorhang im Bayreuther Festspielhaus, um sich ihren Einzelapplaus abzuholen. Sie sieht ein bisschen müde aus. Soeben hat sie die längste und anspruchsvollste Sopranpartie gemeistert, die es gibt: Brünnhilde in Richard Wagners „Götterdämmerung“. Nur wenige schaffen das. Aber den Wagnerianern reicht es nicht. Ein Orkan aus Buh-Rufen bricht über die Sängerin herein. Die festlich gekleideten Besucher im Festspielhaus sind außer sich vor Wut auf Theorin. Alleine und einsam steht sie vor dem Vorhang, lächelt verlegen angesichts der Schreie. Was bringt Leute dazu, Sänger anzubrüllen? Gedanken zur Buh-Psychologie in Bayreuth.

Der Grüne Hügel ist der einzige Ort auf der Welt, wo der feine Bürger mal so richtig die Sau rauslassen kann, und das nutzt er aus. Das Premierenpublikum in Bayreuth ist gefürchtet wegen seiner Aggressivität. Gerade bei einem neuen „Ring“ halten die Wagnerianer mit lautem Geschrei meist gegen die Regie, in manchen Fällen auch gegen den Dirigenten und in der neuen „Götterdämmerung“ nun zusätzlich gegen die Brünnhilde.

Zuverlässig ändert sich die Meinung

Aber gegen was sind sie eigentlich? Das bleibt rätselhaft. Denn zuverlässig wandelt sich diese Haltung im Verlauf der folgenden Jahre. Eine Inszenierung steht in Bayreuth in der Regel fünf Mal hintereinander auf dem Spielplan. Der „Jahrhundertring“ von Patrice Chereau führte 1976 sogar zu Schlägereien. Was war passiert? Chereau hatte, 1976 wohlgemerkt, nicht 1932, die Flügelhelme und Bärenfelle ausgemistet und den Stoff in die Zeit der Frühindustrialisierung verlegt. Heute gilt die Interpretation als kanonisch. Bei der letzten Vorstellung 1980 verabschiedeten die Wagnerianer den Chereau-„Ring“ nach der „Götterdämmerung“ mit einem Applaus von über 90 Minuten Länge und 101 Vorhängen.

Bei Frank Castorfs „Ring“ von 2013 waren die Festspielbesucher so voller böser Vorahnungen, was der rebellische Regisseur wohl aus den vier Opern machen würde, dass sie sich bereits vorher an den Frühstückstischen ihrer Hotels zu Buh-Aktionen verabredeten. Trillerpfeifen wurden ins Festspielhaus geschmuggelt. Die selbst ernannten Hüter der deutschen Kultur führten sich auf wie Hooligans. Aber allein: Das Publikum zog nicht richtig mit. Es gab bei Castorf eine große Bravo-Fraktion. Die hörte man zwar wegen der Akustik im Festspielhaus nicht so gut, ein Buh kann locker 20 Bravos übertönen. Aber es zeigte sich, worum es den Buh-Leuten auch geht: Die niederzuschreien, die anderer Meinung sind.

Große Karrieren haben hier begonnen

Die Bayreuther Festspiele sind das einzige Musikereignis von internationalem Rang in Deutschland. Große Karrieren haben hier begonnen, zum Beispiel die von Iréne Theorin, die im Flimm-„Ring“ 2000 als Ortlinde startete, dann systematisch aufgebaut wurde, bis sie 2008 mit einer sensationellen Isolde ihren internationalen Durchbruch feierte. Das Publikum kommt ebenfalls aus aller Welt. Viele der internationalen Gäste reagieren verstört und mit Angst auf das Buh-Geschrei. Sie fürchten, dass der hässliche Deutsche im Parkett von Bayreuth wiederersteht. Gerade Besucher aus Großbritannien berichten von Unwohlsein und Schlafstörungen nach einem Erlebnis solcher Shitstürme. In England ruft man nicht Buh. Wenn einem die Inszenierung nicht gefällt, klatscht man höflich oder gar nicht. Diese Botschaft wird immer verstanden.

Mit Leidenschaft gebuht

In Italien wird hingegen mit Leidenschaft gebuht und gepfiffen. Die Italiener sehen Oper in jeder Hinsicht sportlich. In Milano, Neapel, Turin oder Rom hält man auch die Lieben daheim per WhatsApp während der Vorstellung auf dem Laufenden. Vielleicht sind die Italiener näher am Buh. Denn erstmals überliefert ist der Ruf aus den römischen Arenen. Das Publikum äußerte damit sein Missfallen über Gladiatoren, die nicht genug Leistung vor ihrem Tod erbrachten.

Das steht aber genau im Widerspruch zur deutschen Operntradition. Gerade Richard Wagner hat seine Opern zur Kunstreligion stilisiert. Sänger beurteilt das deutsche Publikum in der Regel nicht wie Gladiatoren oder Zirkusartisten, die vom Hochseil fallen können. An deutschen Stadttheatern erklingen vereinzelt Buhs für Regiearbeiten, die missfallen. Buhs für Sängerinnen und Sänger sind hingegen praktisch nie zu hören. Wer schlecht singt, hat ja eher Mitgefühl verdient als Hass, weil er selber weiß, dass er nicht gut drauf ist, jedoch aus der Situation nicht aussteigen kann. Allein eine Brünnhilde physisch durchzustehen, ist eine Leistung. Ein schlechter Abend macht keinen schlechten Sänger. Nur in Bayreuth wird die Respekt-Grenze gegenüber Sängern regelmäßig überschritten.

Den Ultra-Wagnerianern geht die Luft aus

Wieso das ausgerechnet in Bayreuth anders ist, hat noch niemand ergründet. Es ist die eine Sache, ob die Wagnerianer sich als Sachwalter des heiligen Grals verstehen und jeden bestrafen wollen, dessen Deutung ihnen zu modern ist oder die sie beim ersten Mal nicht verstehen. Aber keine von den Buhern könnte eine Brünnhilde, einen Siegfried oder einen Wotan singen. Also geböte der Anstand den Kulturwächtern, sich kultiviert zu verhalten. Auch bei Castorfs „Ring“ wurde die Brünnhilde 2013 in der Luft zerrissen, nach der Premiere der „Walküre“. Catherine Foster musste damals jedoch nicht alleine durch die Situation. Wotan Wolfgang Koch kehrte zurück auf die Bühne und reichte seiner Kollegin in demonstrativer Solidarität die Hand.

Der heilige Gral der Deutungshoheit

Wenn Wagnerianer zu Wutbürgern werden, geht es stets um Deutungshoheit. Der Anspruch der Bewahrung, der dahinter steht, ist allerdings nicht zu erfüllen. Gerade Wagners Werk hält immer neuen Deutungen mühelos stand, weil die Stoffe viel moderner und aktueller sind als das Publikum, das meint, sie verteidigen zu müssen. Der „Ring“ zum Beispiel erzählt nur vordergründig von Riesen, Göttern und Zwergen. Tatsächlich geht es um Macht, Gier und Naturzerstörung. Weil er den Hals nicht voll genug kriegen kann, bricht Wotan als Wahrer des Rechts gültige Verträge und setzt eine Ereigniskette in Gang, die zum Weltenbrand führt. Kommt einem doch bekannt vor, wenn man sich so umguckt, oder?

Die schlimmste Buh-Attacke der jüngeren Zeit erlebte Hans Neuenfels 2010 mit seinem Ratten-„Lohengrin“. Auch hier verabredeten sich Teile des Publikums zu gezielten Störungen, es kam sogar zu Buh-Rufen mitten im Spiel. Doch auch diese Produktion wurde rasch Kult und mit langem Beifall nur widerwillig in die Versenkung geschickt; ebenso wie der Castorf-„Ring“ als große Theaterleistung 2017 verabschiedet wurde.

Früher war mehr Buh

Beim großen Geschrei nach der aktuellen „Götterdämmerung“ von Regisseur Valentin Schwarz konnte man dennoch einen Eindruck gewinnen: Früher war mehr Buh. Tatsächlich beobachten langjährige Festspielbesucher schon seit einiger Zeit, dass den Wagner-Ultras die Luft ausgeht und der Nachwuchs. Die Festspiele befinden sich im Umbruch. Der Wagner-Freund, der die Partitur mitsingen kann, stirbt aus. Stattdessen kommen viele Event-Leute. Während die Ultras immer älter werden, wird das Publikum immer jünger. Ob das gut ist, wissen nicht einmal Wagners Nornen. Und ob Angela Merkel je gebuht hat, ist nicht überliefert.