Wenn sich das Leben in wenigen Stunden völlig verändert: So geht es den Bürgern von Bad Münstereifel ein Jahr nach der Flut.

Ein Jahr nach der Flut ist die historische Altstadt von Bad Münstereifel wieder mit Touristen gefüllt, die meisten Geschäfte sind seit einigen Tagen neu eröffnet, doch für die Einheimischen fühlt sich jeder Schritt falsch an. Das liegt auch am Straßenbelag. Die Erft hat das bucklige alte Kopfsteinpflaster mit sich gerissen. Nur 5000 Basaltsteine konnten geborgen werden. Gäste und Einheimische wandeln in der pittoresken Innenstadt also neuerdings über moderne graue Platten, die so gar nicht zur mittelalterlichen Kulisse passen.

Es fällt leichter, über das Pflaster zu schreiben als über die Toten. 26 Menschen verloren durch die Flut im Kreis Euskirchen ihr Leben, 5 davon im Münstereifeler Stadtgebiet. Nachbarn haben ihre leblosen Körper bei Aufräumarbeiten gefunden, Kinder beim Spielen, Feuerwehrleute beim Auspumpen. Sie zu betrauern war lange unmöglich, weil es keine Infrastruktur für Beerdigungen mehr gab.

Aufräumen, Wiederaufbauen, Schuften bis zum Umfallen. Dieser Rhythmus prägt Münstereifel seit der Flut. Es ist ja ein Wettlauf. Gegen die Angst. Vieles bleibt unausgesprochen, weil die Münstereifeler noch keine Sprache für das haben, was mit ihnen passiert ist, als das Wasser von den grünen Hängen herabschoss, als die friedliche Erft und alle Bäche ihre Betten verließen und eine Zerstörung bewirkten, die man noch nicht einmal dann begreift, wenn man die Bilder von damals betrachtet.

Mit dem Gesicht nach unten in der reißenden Brühe

Der Bruder hat mit dem Gesicht nach unten in der giftigen, reißenden Brühe gelegen. Als er Schaltafeln von seinem Hof zu seinem Haus tragen wollte, rutschte er aus. Das Wasser riss ihn sofort von den Füßen. Ohne die Tafeln hätte er sich nicht wieder hochstemmen können. Er hat nur ein einziges Mal darüber gesprochen, Monate später und nur beiläufig. Jetzt wüsste er, was Todesangst sei.

Cousine Irmgard Lingscheid-Ahlbach lebt in einem der vergessenen Dörfer, die zur Stadt Bad Münstereifel gehören. Nach Gilsdorf, 112 Einwohner, lieblich im Tal des Eschweilerbachs gelegen und vollständig überflutet, hat sich kein Rote-Kreuz-Wagen verirrt, kein THW-Laster und kein Kamerateam. „Es hat sich noch nicht mal einer von der Kirche sehen lassen. Das war auch für die Eltern schlimm.“

Bei jedem Regen kommt die Angst

Wenn es jetzt stark regnet, fangen sie in Gilsdorf an, die Möbel wieder in den ersten Stock zu räumen. Die Flut hat das Leben für immer verändert. „Das Schlimmste ist die Angst“, sagt Irmgard. „Die Angst ist permanent da, sobald es anfängt zu regnen.“ Die Gilsdorfer müssen sehen, wie sie mit dem Kontrollverlust klarkommen, dem Gefühl von Entheimatung. „Bei allem, was Du machst, fragst Du Dich: Wie lange wird es halten?“

Die Cousine und ihr Mann harrten vor einem Jahr im Obergeschoss ihres Hauses aus, während das Erdgeschoss volllief. Das Wasser kam durch die Wände, sprudelte aus den Steckdosen. Die 85-jährigen Eltern, beide gehbehindert, befanden sich im benachbarten Hof, es gab keine Möglichkeit, zu ihnen zu kommen, Telefon, Mobilfunk, Internet, alles tot. Den Winter hat die Familie, wie so viele Münstereifeler, in einem Wohnwagen verbracht, denn das Erdgeschoss musste komplett entkernt werden.

Die geschreinerte Treppe ins Obergeschoss hielt Stand. Sie besteht aus Eschenholz. Esche wächst am Wasser, ihr Holz kann es vertragen, wenn es eine Nacht nass steht. So etwas weiß man in der Eifel jetzt.

Was den Betroffenen zusetzt, sind die unbeantworteten Fragen. „Kümmert sich jemand auf der politischen Ebene darum, dass das nicht noch mal passiert? Wir haben nicht den Eindruck“, reflektiert Irmgard die vergangenen Monate. „Wichtig wäre, dass man das Wasser daran hindert, in die Dörfer zu kommen, dass man große Retentionsflächen schafft. Wohin geht das Wasser von der Autobahn und von den Neubaugebieten mehrere Kilometer oberhalb? Die Bodenversiegelung nimmt ja noch zu.“

Katastrophen-Betroffene werden schnell vergessen

Retentionsfläche, also Überflutungsfläche, ist ein Ausdruck, den vor der Flut kaum einer kannte. Jetzt kennen ihn alle in Gilsdorf.

Die Stadt hat nach der Flut den Auftrag gegeben, den Eschweilerbach zu säubern. Der beauftragte Unternehmer engagierte seinerseits einen Subunternehmer, und der Subunternehmer schickte Arbeiter, von denen keiner Deutsch sprach. Die Männer rissen die Bäume heraus, welche die Dorfbewohner auf Rat des Erftverbandes, zuständig für die Wasserwirtschaft im Bereich der Erft, vor 15 Jahren selbst an die Uferböschung pflanzten, damit mit ihnen die Bachufer befestigt und so Hochwasser abgewehrt würde. „Man weiß tatsächlich nicht, was wirklich schützt“, sagt Irmgard.

Wer Münstereifel verstehen will, muss zurückblicken, Geschichte ist allenthalben präsent. Die bis zur Flut intakte mittelalterliche Stadtmauer, die verwinkelten Gassen, die mächtige Burg. Die Römer bauten eine Wasserleitung nach Köln und eine große Tempelanlage im Ort Nöthen. St. Martin ritt unweit als römischer Soldat vorbei. Gilsdorf wurde 846 erstmals erwähnt, in einer Schenkungsurkunde von Kaiser Lothar I., dem Enkel Karls des Großen. Um 830 gründete der dritte Abt von Prüm ein Tochterkloster an der Erft, das er „Novum Monasterium“ (Neumünster) nannte. 844 schenkte der damalige Papst der Abtei die Gebeine der römischen Märtyrer St. Chrysanthus und Daria. Das neue Münster in der Eifel wurde zum Wallfahrtszentrum, später zum Zentrum der Tuch- und Lederherstellung. 1625 errichteten die Jesuiten das St. Michael-Gymnasium für Jungen, das über Jahrhunderte die einzige höhere Schule zwischen Köln und Trier war.

Große Hilfsbereitschaft

Was bleibt, ist die Erinnerung an die große Hilfsbereitschaft der Nachbarn und der angereisten Freiwilligen. Was bleibt, ist auch das Befremden über die Koordinierungsprobleme der staatlichen Katastrophen-Infrastruktur. Die Bauern mit ihren Traktoren waren es, welche die Wege wieder passierbar machten und Tag und Nacht das zur Müllkippe fuhren, was vor der Flut einmal Wohnzimmer und Einbauküchen, Zeugnisse eines guten Lebens, waren.

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass Katastrophen-Betroffene von der Öffentlichkeit und der Politik schnell vergessen werden. Für die ersten spektakulären Bilder interessieren sich Millionen. Für das mühevolle Aufräumen, die Trauer, die Erschöpfung, die Angst und die Schlaflosigkeit interessiert sich kein Mensch. Es wird noch Jahre dauern, bis alle Schäden repariert sind. „Was Du haben kannst, ist Hoffnung“, sagt Irmgard. „Wir machen weiter und hoffen, dass nichts passiert.“

Die Geschichten dieser Flut sind noch lange nicht erzählt.