Bergkamen. Das Steinkohlekraftwerk Bergkamen sollte Ende Oktober stillgelegt werden. Doch jetzt soll die Anlage betriebsbereit bleiben - für den Gas-Ersatz.
Der Himmel über Bergkamen ist an sonnigen Tagen noch markanter als sonst. In wolkenlos-blauen Höhen erscheinen die riesige Wasserdampf-Rauchwolken aus dem Schornstein und dem Kühlturm des Steinkohlekraftwerks im Ortsteil Heil weithin sichtbar auch für Pkw-Fahrer auf den Autobahnen 1 und 2. Dampfschwaden, die aussehen, als gehe der Qualm von Millionen Zigaretten gleichzeitig in die Atmosphäre.
In diesen Tagen müsste eigentlich Thomas Grziwotz, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bergkamener Rat, wie ein HB-Männchen hochgehen. Hat doch sein Parteifreund Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Energie, den Vorschlag gemacht, vorübergehend wieder stärker auf Kohlekraftwerke zu setzen. Um angesichts gedrosselter Lieferungen aus Russland bei der Stromerzeugung Gas zu sparen. Waren es nicht die Grünen, die immer gefordert hatten, Kohlekraftwerke als klimaschädliche Energieträger abzuschalten?
Wachsende Sorge vor einem Gas-Notstand
Thomas Grziwotz weiß das: „Als ich von Habecks Vorschlag gehört habe, habe ich mir zunächst gedacht: ,So ein Mist!‘“ Der Bergkamener ist dann doch nicht in die Luft gegangen: „Ich hätte mir etwas anderes gewünscht: Aber die seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine wachsende Sorge vor einem Gas-Notstand ist eine außergewöhnliche Situation. Ein Appell an Betriebe und Bevölkerung, Energie einzusparen, wird nicht ausreichen, um über den Winter zu kommen. Ich habe auch keine Idee für eine andere kurzfristige Lösung.“
Ende Oktober sollte Schluss sein
Eigentlich sollte in Deutschland idealerweise bis 2030 Schluss sein mit der Kohleverbrennung. Das sieht das „Kohleverstromungsbeendigungsgesetz“ (KVBG) vor. Es regelt auch, dass bei Stilllegungs-Auktionen festgelegt wird, wann welche Kraftwerke vom Netz gehen.
Demnach sollte in dem seit 1981 vom Steag-Konzern betriebenen Kraftwerk in Bergkamen am 31. Oktober 2022 Feierabend sein. „Wie es mit der Belegschaft weiter gehen sollte – zum Beispiel mit einem Wechsel in den Vorruhestand oder einer Versetzung an einen anderen Steag-Standort – stand noch nicht im Detail fest“, sagt Bernd Hagemeier, seit 2006 Betriebsratsvorsitzender.
Öl- und Kohlekraftwerke sollen im Notfall Strom produzieren
Doch jetzt die Kehrtwende: Nach dem Willen des Bundeskabinetts soll eine Gasersatz-Reserve eingerichtet werden. Im Notfall sollen Öl- und Kohlekraftwerke Strom produzieren, falls nicht genügend Gas geliefert wird.
Steag-Sprecher Daniel Mühlenfeld bestätigt, dass das Kraftwerk Bergkamen über den 31. Oktober hinaus „bis auf Weiteres, mindestens aber die kommenden zwei Jahre betriebsbereit ist – egal, ob es vorübergehend in den Markt zurückkehren wird, um Gaskraftwerke zu ersetzen, oder sich in der Netzreserve auf Abruf zur Gewährleistung von Netzstabilität bereithält.“
Beschäftigte haben noch etwas Zeit gewonnen
Dies betreffe „die Frage der Brennstoffbevorratung, die Gewährleistung der technischen Betriebsbereitschaft und die Personalgestellung“ (die auf Dauer angelegte Beschäftigung bei einem Dritten unter Fortsetzung des bestehenden Arbeitsverhältnisses). Der Steag-Sprecher gesteht ein, „dass die Lösung der Probleme nicht einfach“ sei.
Betriebsratsvorsitzender Hagemeier jedenfalls ist froh, „dass es so oder so bei uns weiter geht. Dass wir noch etwas Zeit gewinnen. Es ist immer besser, Arbeit zu haben, als Kollegen sagen zu müssen, sich nach etwas anderem umzuschauen.“ Der 55-Jährige feiert 2023 sein 40-jähriges Dienstjubiläum bei der Steag. Seit der Verabschiedung des Kohleverstromungsbeendigungsgesetzes vor zwei Jahren hätten die Beschäftigten in Bergkamen „lange Zeit in der Luft gehangen“, sagt er.
Zahl der Mitarbeiter verringert
Mit Blick auf die geplante Stilllegung Ende Oktober habe sich die Zahl der Mitarbeiter von 120 auf 100 verringert, so Hagemeier. Neben dem Bundesgesetz für eine Gas-Ersatzreserve gibt der Belegschaft eine Entscheidung der Bundesnetzagentur zunächst Sicherheit für den Standort. Die Behörde stufte kürzlich das Werk, das Steinkohle auf dem Weltmarkt einkauft und in der Anlage verfeuert, als systemrelevant ein. Es muss voraussichtlich bis Ende Oktober 2024 ständig betriebsbereit sein.
Ökologiestation in der Nähe
Gegenüber dem Kraftwerk Bergkamen befindet sich die Ökologiestation des Kreises Unna, direkt am Südrand der Naturlandschaft „Lippeaue“. Daran beteiligt ist auch der Nabu.
Spricht man mit Rudolf Leismann vom Kreisverband, hört man eine gewisse Ratlosigkeit heraus. „Was soll man machen?“ fragt er, „angesichts der Gas-Knappheit müssen wir in den sauren Apfel beißen und Kohlekraftwerke länger laufen lassen.“ Und schiebt hinterher: „Wenn man wüsste, dass man diesen Kompromiss nur für kurze Zeit in Kauf nehmen müsste.“
Kraftwerk bei den Menschen in Bergkamen akzeptiert
Auch Thomas Grziwotz von den Bergkamener Grünen hadert mit der Situation. Zwar sei die Bevölkerung in der Stadt im Kreis Unna „nie Sturm gegen das Kohlekraftwerk gelaufen“. Aber: „Man hätte in Deutschland viel früher den Weg der umweltfreundlicheren erneuerbaren Energien gehen sollen.“
Dem will Bernd Hagemeier vom Betriebsrat des Kohlekraftwerks gar nicht widersprechen. „Es ist richtig, etwas für die Umwelt zu tun. Natürlich kommt aus unseren Türmen kein Rosenduft. Aber wir haben immer gesagt: ein Schritt nach dem anderen.“ Man hätte für die Energiegewinnung nicht einseitig auf Gas setzen dürfen, sagt er: „Jetzt ist man in einer Situation, in der nicht mehr viele Technologien übrigbleiben.“