Hagen. Aus Sicht der SPD vernachlässigt der Koalitionsvertrag in NRW Südwestfalen in eklatanter Weise. Die CDU hält dagegen.

Auf dem Papier kommt das Thema tatsächlich auf den ersten Blick ziemlich mickrig daher. In ganzen acht Zeilen beschäftigt sich der mehr als 140 Seiten dicke Koalitionsvertrag von Schwarz-Grün explizit mit dem ländlichen Raum. Ziemlich wenig also. An anderen Stellen werden indes viele Bereiche angesprochen, die das Sauer- und Siegerland besonders stark betreffen.

Dirk Wiese, Bundestagsabgeordneter aus Brilon und Sprecher der Südwestfalen-SPD, ist trotzdem unzufrieden. „Der Koalitionsvertrag hat Südwestfalen und insbesondere das Sauerland glatt vergessen“, sagte er dieser Zeitung. „Konservative Großstadtpolitik durchziehe den gesamten Vertrag. „Das ist ein Offenbarungseid der vielen Verhandler von CDU und Grünen aus unserer Region. Sie hätten sich ihre Teilnahme auch sparen können.“

SIHK: Ziemliche Enttäuschung

Auch Ralf Stoffels, Präsident der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer (SIHK), ist alles andere als begeistert. „Bei allen positiven Ansätzen und Perspektiven, die sich im schwarzgrünen Koalitionsvertrag finden: Dass NRWs stärkste Industrieregion mit ihren einzigartigen Herausforderungen kein einziges Mal im Vertrag erwähnt wird, ist aus Sicht der regionalen Wirtschaft eine ziemliche Enttäuschung“, erklärte er.

Die regionale Wirtschaft hätte sich zumindest ein eigenes Kapitel zur Sanierung der Autobahn 45 erhofft. „Das hätte allein schon das Drama rund um die Rahmedetalbrücke gerechtfertigt. Aber es stehen ja schließlich fast 60 weitere Brücken zur Sanierung der maßgeblichen Lebensader des Industriestandortes an“, kritisiert der SIHK-Chef. Auch wenn die Verantwortung für Autobahnen beim Bund liege, müsse das Land hier Flagge zeigen und sich dieser außerordentlichen Situation und Herausforderung annehmen. Stoffels: „Ich frage mich, wie viel weitere schlechte Nachrichten es noch braucht, bevor die Landesregierung den Fokus auf die Zukunft der Region der Weltmarktführer legt.“

Einer, der mitverhandelt hat und aus dem Sauerland kommt, sieht den Koalitionsvertrag naturgemäß ganz anders. Peter Liese, Europaabgeordneter aus Meschede, leitete für die CDU die Gespräche mit den Grünen im Bereich Umwelt und Landwirtschaft. Es sei gelungen, eine neue Partnerschaft zwischen Landwirten, Waldbesitzern, Jägern und Naturschutz anzubahnen, sagte Liese. So sei beispielsweise in Zukunft sichergestellt, dass die Landwirtschaft keine finanziellen Einbußen erleiden soll, nur weil sie Vorgaben des Landes erfüllen müsse. „Mehrbelastungen durch Auflagen des Landes müssen finanziell ausgeglichen werden“, heißt es im Vertrag dazu. Öffentliche Kantinen sollen in Zukunft verstärkt regionale und biologisch wertvolle Nahrungsmittel anbieten. Dafür bekommen sie Mittel vom Land. Auch das, so Liese, stärke die Landwirte. Das Zukunftsprogramm „Moderne Landwirtschaft“ soll es Bauern zudem ermöglichen, mit dem Einsatz moderner Technik weniger Pflanzenschutzmittel einzusetzen.

Waldprämie kommt

Die Waldbesitzenden dürften mit Freude registrieren, dass NRW eine eigene Waldprämie einführen will, sollten sich die entsprechenden Pläne der Bundesregierung weiter verzögern. Pro Hektar Wald soll eine gestaffelte Vergütung in einer Höhe von maximal 80 Euro pro Jahr fließen, weil Bäume Kohlendioxid speichern und deshalb im Kampf gegen den Klimawandel eine wichtige Rolle spielen. Sollte die Bundesprämie kommen, würde die NRW-Zahlung entfallen.

Auf vom Borkenkäfer und der Dürre dahingerafften Waldflächen können nun Windkraftanlagen errichtet werden; bisher gab es dafür Beschränkungen. Schwarz-Grün will in den kommenden fünf Jahren mindestens 1000 neue Windräder in NRW aufstellen lassen, die meisten davon in Südwestfalen. Eine Abgabe der Anlagenbetreiber an die Standortgemeinden soll „geprüft“ werden. Die 1000-Meter-Abstandsregel zur Wohnbebauung entfällt. Auch Anwohnerinnen und Anwohner sollen stärker an der Wertschöpfung beteiligt werden. Das soll in einem Bürgerenergiegesetz geregelt werden.

Für Liese ist auch entscheidend, was nicht kommt: etwa Änderungen am Landesjagdgesetz. Das hatten die Grünen bisher immer wieder gefordert. Auch ein Verbandsklagerecht für Tierschutzverbände wird es nicht geben, ein generelles Verbot von Pflanzenschutzmitteln in Naturschutzgebieten ist ebenfalls nicht vorgesehen. Auch deshalb reagierte der Westfälisch-Lippische Landwirtschaftsverband weitgehend positiv auf den Koalitionsvertrag.

Beim Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs bleibt der Vertrag vage. Geplant ist ein landesweites Schnellbusnetz. Es soll vor allem Kommunen mit mehr als 20.000 Einwohnerinnen und Einwohnern verknüpfen, die keine Schienenanbindung haben. Bis 2027 sollen 1000 Kilometer neue Radwege gebaut werden. Die Kommunen sollen mehr Geld bekommen, um den ÖPNV auszubauen. Auf dem Land soll es mehr Anforderungsangebote geben, zudem soll bis 2027 ein flächendeckendes Schnellbusnetz entstehen. Das alles sei der „Einstieg in die landesweite Mobilitätsgarantie“.

Wenig konkret wird auch die Gesundheitsversorgung abgehandelt. „Wir werden in den kommenden fünf Jahren erhebliche finanzielle Anstrengungen unternehmen, damit in allen Krankenhäusern die notwendigen Investitionen für Personal und Ausstattung erfolgen können. (...) Die Grund- und Notfallversorgung muss weiterhin flächendeckend wohnortnah verfügbar sein. Eine Bestandsgarantie für alle Kliniken im Land ist das nicht.