Sundern. Chervona Kalyna wird derzeit weltweit gesungen. Warum geflüchtete ukrainische Frauen aus Sundern das Volkslied in ihrem Chor anstimmen.
Oma. Wie bei Oma. Das ist ein Begriff, der oft fällt im Interview in Sundern. Wenn es um Melodien geht. Oder um Rezepte für köstliche Piroggen. Bei Oma gab es einen Kirschbaum im Garten, einen Schneeballstrauch neben dem Haus, die Jungen und Mädchen kamen abends zusammen, um zu singen und zu tanzen. Oma, das steht für Sicherheit und Geborgenheit. Für alles, was die Frauen verloren haben. 15 geflüchtete Ukrainerinnen zwischen 13 und 60 Jahren singen in Sundern gegen ihre Angst an und gegen das Heimweh. Sie haben den Chor „Chervona Kalyna“ gegründet.
Natalya Franz ist eine Ukrainerin, die seit 19 Jahren in Deutschland lebt, zuerst in Bochum, seit 11 Jahren in Sundern. Sie übersetzt für die Frauen. „Singen, das ist Liebe, Familie, die Heimat. Singen bedeutet für uns Heimat.“ Sinnbildlich dafür steht die Kalyna, der rote Schneeball (Viburnum), der dem Chor seinen Namen gibt. Die roten Beeren sind ein Nationalsymbol der Ukraine. „Früher wuchs der Busch neben jedem Haus, die Beeren wurden in der Volksmedizin benutzt. Chervona Kalyna steht als Symbol für Widerstandskraft. Den Strauch kann man beugen, aber nicht brechen, er richtet sich immer wieder auf. Er hat Stärke. Er symbolisiert unsere Kraft“, erläutert Natalya.
Biegen, aber nicht brechen
„Chervona Kalyna“ ist der Titel eines Volksliedes, das vielleicht auch die Zuhörer kennen, wenn der Chor mit seinem musikalischen Leiter Wolfgang Richter vor Publikum auftritt, beim Friedensgebet auf dem Marktplatz in Neheim-Hüsten am Samstag etwa oder am Sonntag beim Kirchenkonzert in Sundern-Hellefeld. Denn das Lied vom Schneeballstrauch geht seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine als Solidaritätshymne um den Globus. Andrij Chlywnjuk, Sänger der ukrainischen Band BoomBox, brach nach dem Angriff Russlands seine US-Tour ab, um sich den Streitkräften anzuschließen. In Armeekleidung hat er in Kiew das Lied a cappella eingesungen. Das Video dazu ging viral.
Auf der ganzen Welt singen und spielen Musiker derzeit „Kalyna“ und stellen ihre Videos auf YouTube, um Geld für die Hilfsorganisationen zu sammeln. Pink Floyd hat am 8. April auf der Basis der Version von Chlywnjuk die Single „Hey, Rise Up!” veröffentlicht und bis jetzt fast 10 Millionen Aufrufe erzielt. David Gilmour ist Schwiegervater der ukrainischen Künstlerin Janina Pedan.
Auch Pink Floyd spielt Chervona Kalyna
An Pink Floyd und YouTube haben Judith Wachholz und ihre Schwester Elke Simon, die Geschäftsführerinnen des Bestattungshauses Adami in Sundern, nicht gedacht, als sie ihren Raum der Begegnung als Treffpunkt für ukrainische Frauen öffneten. Judith Wachholz: „Wir haben selbst eine Familie aufgenommen, in der Einliegerwohnung unseres Hauses gegenüber vom Bestattungshaus. Dort wohnte unser Sohn, aber der ist extra wieder zu uns zurückgezogen, damit Julia und ihre Tochter in die Wohnung können. Wir haben gesagt, die Frauen können den Raum der Begegnung zum Treffen und Klönen nutzen, die meisten wohnen doch sehr beengt. So ist nach und nach der Chor entstanden“
Wolfgang Richter übt im „Raum der Begegnung“ regelmäßig auf dem E-Piano. Als er merkte, wie sehr die Frauen Musik lieben, hat er ukrainische Lieder gelernt. Und er hat sich bereit erklärt, den Chor zu leiten. Judith Wachholz: „Die Frauen sagen, dass ihnen das gemeinsame Singen und der Austausch gut tun. Es wird geweint, sie umarmen sich, aber es wird dabei auch viel gelacht.“
Blumenkranz mit bunten Bändern
Natalya Franz hatte kurz vor dem ersten Auftritt die Idee, den klassischen nationalen Kopfschmuck der ukrainischen Frauen zu basteln, den Blumenkranz mit bunten Bändern. Judith Wachholz hat über ihre Netzwerke das Material dafür organisiert. „So können wir die Volksmusikebene besser rüberbringen“, sagt Natalya.
Schnell war der Chor für Auftritte gefragt, sogar zu gefragt. Denn alles muss ehrenamtlich organisiert werden, auch die Fahrten zu den Konzerten; die Bullis leihen der TUS und der Jugendverein aus. Doch die Frauen singen ja nicht nur, sie müssen sich vor allem einen neuen Alltag erarbeiten, mit Sprachkursen, Behördenterminen, Vorbereitung der Kinder auf Kindergarten und Grundschule. Auch dabei leistet die Familie Wachholz/Simon Unterstützung.
Gänsehaut bei Nationalhymne
Ihre Smartphones haben die Sängerinnen immer griffbereit und mit ihnen ist die Angst vor schlechten Nachrichten allgegenwärtig. Die Männer fahren zuhause die Verpflegungszüge, sie steuern Busse, die Essen zu den Soldaten an die Front bringen, sie kochen oder unterstützen die Köchinnen beim Kartoffelschälen oder Tragen von schweren Eimern und Säcken. „Sie suchen Aufgaben, wo man helfen kann“, so Natalya Franz.
Wenn der Chor mit Inbrunst die ukrainische Nationalhymne singt, spüren die deutschen Zuhörer Gänsehaut. Gerne bittet das Publikum die Sängerinnen auch, das lyrische Lied von der Nachtigall an der Donau anzustimmen, „Oy u Hayu Pry Dunayu“. Darin beklagt die Nachtigall ihre Einsamkeit und versucht, mit ihrem Gesang ihre Familie herbeizurufen. Natalya Franz: „Dann weinen wir alle.“
Der Chor „Chervona Kalyna“ tritt unter anderem auch beim Münsterstraßenfest des Integrationsrates am 18. Juni in Dortmund auf.