Hagen. Schuldnerberatungen auch in der Region schlagen Alarm: Die Nachfrage steige stetig. Eine Schuldnerin berichtet, wie sie in die Lage geriet.

Dass Tanja (45) nicht zum Frisör geht, sieht man ihr nicht an. Sie kann ihn sich nicht leisten. Mal Essen gehen ist auch nicht drin. „Mit dem Geld, das ich erwirtschafte, kann ich nicht einmal mehr die Grundkosten abdecken“, sagt die Verkäuferin aus Hagen, 45 Jahre alt, geschieden, ein Kind. Verschuldet ist sie. Überschuldet gar. Das Leben ist ihr in den vergangenen Wochen und Monaten viel zu teuer geworden. Wie vielen anderen auch.

Schuldnerberatungen: Anstieg der Nachfrage um 10 bis 30 Prozent

Abzulesen ist dies am Zulauf, den Schuldnerberatungen derzeit verzeichnen. Eine Umfrage der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung unter 462 Standorten in Deutschland ergab im Frühjahr einen deutlichen Anstieg der Nachfrage im Vergleich zum Sommer 2021. Mehr als die Hälfte der befragten Beratungsstellen nannte zwischen zehn und 30 Prozent mehr Anfragen.

Die Diakonie Mark-Ruhr hat in den ersten fünf Monaten des Jahres bereits 485 Klienten in ihren Standorten Hagen, Schwelm, Witten und Hattingen betreut. Zum Vergleich: In 2021 waren es insgesamt 684. Hochgerechnet auf das Jahr macht das einen Anstieg von 70 Prozent.

Mit jedem Brief türmt sich der Schuldenberg weiter auf

Zwei Jahre Corona-Pandemie und die Verteuerung der Mieten, von Benzin, Strom und Lebensmitteln werden gerade all jenen zum Verhängnis, die schon am Existenzminimum balancierten. Wie Tanja.

+++ Altersarmut: Siegenerin hat 250 Euro im Monat zum Leben +++

Sie erinnert sich daran, wie sie den Brief vom Gericht in den Händen hielt. Nach der Scheidung von ihrem Mann waren Rechnungen aufgelaufen, für den Energieversorger, für die Miete. Verträge, unter denen nur ihre Unterschrift stand. Rechnungen, die nie bedient wurden. Deswegen richten sich die Forderungen an sie, etwa 21.000 Euro.

Schuldnerberaterin in Schwelm: Brigitte Müller-Schwietering
Schuldnerberaterin in Schwelm: Brigitte Müller-Schwietering © Andreas Buck | Andreas Buck

Mit jedem Brief wurde es schlimmer, türmte sich der Berg mehr auf. Fühlte sie sich machtloser, ohnmächtiger. Ihrem neuen Partner sagte sie aus Scham lange nichts und fing die Post heimlich ab. „Irgendwann habe ich die Briefe fast ungelesen in eine Mappe gesteckt.“ Vermeidungsprinzip.

„Zeitweisen habe ich nicht mehr geschlafen“

Vor drei Wochen ist ihr Privatinsolvenzverfahren eröffnet worden, weil sie überschuldet ist. Das heißt: Mehr Rückstände als sie imstande wäre zurückzuzahlen. Nach drei Jahren ist sie ihre Schulden los. Bis dahin verbleiben maximal 1731 Euro auf ihrem Konto. Jeder Euro darüber, wird zur Tilgung der Schulden verwendet bzw. direkt vom Arbeitgeber weiterüberwiesen.

„Es ist so, dass die Kleinigkeiten in meinem jetzigen Leben stärker ins Gewicht fallen“, sagt sie. Der Aufpreis für Nudeln und Eier, für Strom und Benzin. „Und die Preisspirale dreht sich weiter ohne Aussicht auf ein Ende.“ 400 Euro verfährt sie derzeit im Monat zur Arbeit. „Mit dem Geld, das bleibt, muss ich klarkommen. Das ist manchmal schwer.“ Aber nicht so schwer, wie die erste Zeit, als sie nicht wusste, was jetzt zu tun wäre. Sie schämte sich für die Schulden, von denen sie lange nichts wusste. Und vor allem schien ihr die Lage aussichtslos. „Zeitweise habe ich nicht mehr geschlafen“, sagt Tanja, die eigentlich anders heißt.

Wartezeit bei der Diakonie in Hagen: zehn Monate

Brigitte Müller-Schwietering kennt solche Fälle. Die 58-Jährige arbeitet seit drei Jahrzehnten in der Schuldnerberatung. Standort: Schwelm. Taschentücher hat sie im Büro immer griffbereit für die Klienten. „Bevor sie sich entschließen, sich an uns zu wenden, haben die meisten monatelang mit sich gerungen“, sagt sie. Doch kurzfristige Hilfe ist derzeit nicht immer möglich.

Am Standort Hagen stehen mehr als 100 Namen auf der Warteliste für ein Erstgespräch in der Schuldnerberatung, wie Mitarbeiterin Jenny Friße (35) sagt. Wartezeit: zehn Monate. Teilweise, teilt die Diakonie mit, hinterließen drei Anrufer ihre Kontaktdaten, während ein Beratungsgespräch geführt würde. Hauptursache für eine Verschuldung: plötzliche Arbeitslosigkeit, Scheidung, Tod des Partners, Erkrankung. Durchschnittliche Verschuldung im vergangenen Jahr im Bezirk Mark-Ruhr: 25.000 Euro.

Schulden: Ein drängendes gesellschaftliches Problem

Brigitte Müller-Schwietering hat Sorge, dass das gerade erst die Spitze des Eisberges ist, die sich da zeigt, dass Schulden zu einem drängenden gesellschaftlichen Problem werden. „Das, was wir letztes Jahr bearbeitet haben, war das, was wir leisten können. Aber die Zahlen steigen.“ Die Stadt Hagen, die anders als andere Städte (siehe Hintergrund) ein eigenes Schuldnerberatungsangebot hat, vermeldet spürbar steigende Nachfrage nach Beratung und Bescheinigungen für das Pfändungsschutzkonto (P-Konto).

Schuldnerberaterin in Hagen: Jenny Friße
Schuldnerberaterin in Hagen: Jenny Friße © Andreas Buck | Andreas Buck

„Die steigenden Lebenshaltungskosten werden unserer Einschätzung nach erst in den kommenden Monaten bei uns in Form von noch mehr Anfragen aufschlagen“, teilt die Landesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung NRW auf Nachfrage mit und sorgt sich darum, dass die „kostenfrei arbeitenden Beratungsstellen personell sehr knapp besetzt sind, weil die kommunalen Fördermittel der Schuldnerberatung nicht an die gestiegenen Fallzahlen angepasst wurden“. Die finanzielle Förderung durch die Politik sei wichtiger denn je.

Nachdem Tanja ihren Mut gefasst hatte, meldete sie sich bei der Schuldnerberatung. „Keiner macht einem Vorwürfe“, sagt sie. „Im Gegenteil: Durch die Schuldnerberatung wusste ich, was zu tun ist, und was als nächstes auf mich zukommt.“ Die unliebsamen Überraschungen blieben aus. „Die Last, die ich zu tragen hatte, wurde kleiner.“

<<< HINTERGRUND >>>

Die Arbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatung der Verbände kritisiert, dass der Zugang zur kostenlosen Beratung uneinheitlich sei. Soloselbständige, Rentner und Studierende etwa erhalten im Hochsauerlandkreis nur eine kostenlose Kurzberatung, während im Kreis Soest eine umfassende Beratung für alle finanziert wird.

Die AG fordert daher einen gesetzlichen Rechtsanspruch für jeden Bürger auf professionelle und niedrigschwellige Schuldnerberatung, einen zukunftsweisenden Ausbau der Finanzierung von sozialer Schuldnerberatung und Investitionen in die Digitalisierung auf allen Ebenen, um den Zugang zu Schuldner- und Insolvenzberatung zu erleichtern.