Hagen/Münster. Ist Corona jetzt vorbei? Der Medizin-Historiker Malte Thießen macht Hoffnung und legt offen, wie Staat und Bürger abgeschnitten haben.

Die Sehnsucht nach einer Zeit ohne Corona ist groß. Tatsächlich gibt ein Rückblick in die Geschichte der Seuchen Anlass zur Hoffnung, dass das Ende nah ist. Darauf deuten auch Antworten des Professors Dr. Malte Thießen aus Münster hin. Der Medizinhistoriker und Leiter des Instituts des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe für westfälische Regionalgeschichte wagt auch ein Fazit, ob Staat und Bürger den Pandemie-Leistungstest bestanden haben.

Eine Pandemie dauert drei Jahre, sagen Virologen. Können Sie das mit Blick auf die Geschichte bestätigen?

Malte Thießen: An diese These ist zum Teil etwas dran. Für die Dreijahresfrist spricht, dass Covid-19 - wie viele andere Viren auch - im Laufe der Zeit so mutiert, dass ihr Wirt überlebt. Daraus speist sich diese Auffassung. Die letzte Pocken-Epidemie von 1870 bis 1873 in Deutschland hatte tatsächlich drei Jahre Bestand, so wie die Hongkong-Grippe von 1968 bis 1971. Die Spanische Grippe von 1918 bis 1920 wiederum war zwar nach zwei Jahren vorbei, allerdings haben wir seither immer wieder mit ihren Nachfolgerinnen, den Influenza-Wellen, zu tun. Ein Naturgesetz ist diese festgelegte Dauer von drei Jahren aber nicht. Dafür steht die Pest, die 1346 über sieben Jahre wütete. Die Pocken wurden immer wieder in Europa eingeschleppt, so auch in den 1960er Jahren ins Sauerland. Sie wurden schließlich 1979 dank Impfungen von der Weltgesundheitsorganisation als ausgerottet erklärt.

Wagen Sie eine Voraussage, wann die Corona-Pandemie Geschichte ist?

Es gibt zwei denkbare Szenarien: Am liebsten wäre mir das Pockenmodell, weil wir dann endgültig Ruhe vor Corona hätten. Wahrscheinlicher aber ist das Influenza-Modell, das heißt: Covid-19 wird immer wieder kommen, immer wieder mutieren, aber durch Impfungen und Grundimmunität werden wir mit ihr so umgehen, wie bei einer einfachen Grippe. Wir werden damit leben müssen und können. Den großen Bang wird es meiner Meinung nach nicht mehr geben, auch das von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach erwähnte Killervirus ist eher unwahrscheinlich. Zurzeit sieht es so aus, dass aus der Pandemie eine Epidemie wird.

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Sehen das die Bürger auch so?

Die Menschen in Deutschland empfinden das Virus bereits seit Wochen nicht mehr als eine große Bedrohung, es gibt einen Gewöhnungseffekt. Leider auch mit Blick auf die Toten. 300 Tote pro Tag, da wäre im vergangenen Jahr der Aufschrei groß gewesen. Jetzt wird es zur Kenntnis genommen. Corona ist leider ein sehr flexibles Virus, das mit einer hohen Mutationsgeschwindigkeit immer wieder zurückkommt. Deswegen ist die Vorstellung, dass man dieses Virus ausrotten kann, erst einmal unrealistisch. Wir werden also nicht im ewigen Panikmodus verharren müssen, sollten aber wachsam bleiben. Kurzum: Ein Ende ist nicht absehbar, es sei denn es wird ein Superimpfstoff entwickelt.

Warum spielt Corona in der Politik und im Alltag der Bürgern kaum noch eine Rolle?

Als Historiker bin ich immer wieder erstaunt, wie kurz die Aufnahmespanne einer Gesellschaft ist. Der Ukraine-Krieg lenkt ab. Gefordert wäre aber, mehrere Aufmerksamkeitsfenster offen zu halten, auch für die Corona-Pandemie und den Klima-Wandel. Hier müssten die verantwortlichen Politiker viel stärker heran: Meinungsbildung in mehrere Richtungen, damit wir nicht immer wieder von der nächsten Krise überrascht werden.

Kann man die Pandemie als Leistungstest für unsere Gesellschaft bezeichnen und wenn ja, wie haben wir abgeschnitten?

Seuchen sind für einen Sozialstaat immer wieder ein Leistungstest. Die Reaktion der Politik 2020 mit Lock- und Shutdowns waren weise und kluge Entscheidungen. Ich weiß, dass meine Meinung unpopulär nach mehr als zwei Jahren Pandemie ist, aber das rigide Vorgehen war richtig. Berücksichtigt werden muss dabei, dass damals die Bedrohung eine Unbekannte war. Man hat aus den Erkenntnissen der Zeit heraus gehandelt. Falsch war allerdings aus historischer Sicht, bei der eingeforderten Solidarität nicht die unterschiedlichen Voraussetzungen der Menschen zu berücksichtigen und alle über einen Kamm zu scheren. Es gab Menschen, die unterschiedlich unter den Lockdowns gelitten haben, das war von Beruf zu Beruf, von Schicht zu Schicht unterschiedlich. Soziale Härten wurden nicht ausreichend berücksichtigt. Hinzu kommt: Die Menschen in den verschiedenen Communities hätten auch zielgerichteter angesprochen werden müssen.

Können aus der Pandemie jetzt schon Lehren gezogen werden?

Natürlich. Mindestens drei. Erstens: Die Deutschen haben gelernt, dass Pandemien nicht von gestern, etwas aus finsteren Zeiten sind. Seuchen sind vielmehr der Normalzustand und werden immer wieder kommen. Dank Impfungen und Antibiotika lebten wir seit den 1970er-Jahren im Zeitalter der Immunität. Vor Corona waren Infektionskrankheiten für uns etwas Altertümliches oder etwas von fernen Kontinenten, aber nichts, was unser Problem sein könnte. Diese Vorstellung hat uns Anfang 2020 in falscher Sicherheit gewogen und den Beginn der Pandemie allzu sorglos angehen lassen. Der Blick zurück, in die Seuchengeschichte, ist also auch ein Appell für die Zukunft, dass wir unser Aufmerksamkeitsfenster für Pandemien zumindest ein Stück weit offenhalten sollten. Zweitens: Wir sind Pandemie, will heißen: Unser Verhalten beeinflusst die Pandemie. Nicht der Staat, die Politiker ‘da oben’, sondern jeder Einzelne hat es selbst in der Hand. Drittens: Pandemien verschärfen immer die sozialen Ungerechtigkeiten.

Hat Sie die Corona-Pandemie als Medizin-Historiker in irgendeiner Weise überrascht?

Ich habe tatsächlich auch als Historiker etwas dazugelernt: Im März 2020 habe ich das Ausmaß falsch eingeschätzt. So wie auch die Reaktionen der Mehrheit auf die harten Lock- und Shutdowns. Die Politik hätte viel härter vorgehen können, mit Zwangsimpfungen, was das Bundesseuchengesetz durchaus zugelassen hätte, mit strengeren Meldesystemen und verstärkter Überwachung, ob Maßnahmen eingehalten werden. In den 1980er wäre das denkbar gewesen. Das liberale Vorgehen trotz vieler Todesopfer nach fast drei Jahren Corona-Pandemie hat mich überrascht – und beruhigt.