Hagen. Hat der Buchhandel eine Zukunft? Und liegt die im Internet oder auf der Straße? Thalias neuer Chef Michael Kretzschmar stellt sich den Fragen.
Die Buchbranche muss sich neu erfinden. Das Geschäft wandert ins Internet ab, die Innenstädte veröden, das Lesen droht als Kulturtechnik zu verschwinden. Keine guten Bedingungen, um der Chef von Europas größtem Buchhandelsunternehmen zu werden? Ingo Kretzschmar (42), der neue Geschäftsführer von Thalia, sieht das anders. Gemeinsam mit seinem Vorgänger Michael Busch (58), der künftig als Sprecher der Gesellschafterversammlung auftritt, erläutert er im Interview, welche Zukunftsthemen Thalia jetzt anpacken muss.
Durch Corona sind noch mehr Menschen aus den Innenstädten ins Internet abgewandert. Wie wollen Sie darauf reagieren?
Ingo Kretzschmar: Indem wir beispielsweise die Buchhandlungen in den Städten als Kulturorte und Treffpunkte etablieren – auch als Ankerpunkt für den umliegenden Handel. Das Thema Omnichannel, die Verzahnung von digitalen und analogen Service- Angeboten, spielt dabei eine große Rolle. Jeder Kanal muss für sich wettbewerbsfähig sein, und sie müssen sich gegenseitig ideal ergänzen. Unsere Buchhandlungen werden auch in Zukunft das Fundament des Unternehmens sein. Dabei sind wir in der Branche diejenigen, die diese Strategie am konsequentesten nach vorne denken. Die Verzahnung von stationär und digital bleibt der Kern unseres Erfolges.
Neue Geschäftsfelder
Sie verkaufen nicht mehr nur Bücher, sondern haben ein neues Geschäftsfeld entdeckt: Sie verkaufen dem inhabergeführten Buchhandel ihre digitalen und logistischen Kompetenzen. Ein Zukunftsthema?
Ingo Kretzschmar: Die Entwicklung einer digitalen Infrastruktur, eines Webshops und der Logistik dahinter setzen große Investitionen voraus. Viele Buchhändler können das nicht stemmen. Sie möchten aber weiterhin selbstständige Unternehmer bleiben, sich vielleicht auch lieber mit ihren Kunden beschäftigen oder mit ihrem Sortiment. Deshalb erkennen immer mehr Buchhandlungen die Vorteile unseres Angebots, unsere digitalen Instrumente mit zu nutzen.
Beim Stichwort Corona denkt man an verödete Innenstädte, durch die der Paketbote radelt. Kann der Buchhandel die Innenstädte retten?
Michael Busch: Die Menschen werden wieder in die Innenstädte zurückkommen. Die Frage ist jetzt: Was kann der Handel dazu beitragen? Ein wichtiger Punkt ist es, offen zu sein für die Digitalisierung. Denn die Menschen erwarten, dass die Läden mit ihren Angeboten zu jeder Zeit, an jedem Ort für sie erreichbar sind. Digitalisierung ist eine große Chance für den Handel. Mein bestes Beispiel ist das Lesegerät Tolino. Wir sind mit dem Tolino in einer Situation wie kein anderes Land der Welt. Mit der Tolino-Allianz konnten wir die marktbeherrschende Position des Amazon-Kindles tatsächlich brechen. Was war der initiale Gedanke für den Tolino? Wir wollten E-Bücher verkaufen. Die verkauft man über die Lesegeräte. Also haben wir Verbündete gesucht, um ein Lesegerät zu entwickeln. Heute liegt der Marktanteil unserer Allianz bei mehr als 40 Prozent, den Löwenanteil, rund zwei Drittel, trägt Thalia bei. Das gibt es sonst in keinem Land.
Unternehmerische Vision
Als Sie, Herr Busch, für Thalia vor knapp 10 Jahren auf der Buchmesse die Idee vorstellten, ein eigenes Lesegerät zu entwickeln, sind sie ausgelacht worden, wegen der enormen Entwicklungskosten, die nur über eine Allianz von Buchhändlern zu meistern waren. Das galt aber als unmöglich, weil der Buchhandel sich bis dahin nie verbündet hat.
Michael Busch: Ein Unternehmer kann ja nichts dafür, wenn anderen Leuten die Vision fehlt. Die Investitionen in den Tolino erhalten wir jetzt doppelt und dreifach zurück. Denn unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Buchhandlungen haben die Kunden am Tolino fit für das Lesen elektronischer Bücher gemacht. Über das E-Commerce haben wir auch viele neue Kunden gewonnen. Die kommen jetzt zu uns in die Läden. Eine Folge von Corona ist ja, dass die Menschen wieder lokal einkaufen wollen.
Ingo Kretzschmar: Viele Kunden kommen durch das Digitale wieder zum haptischen Lesen. Es gibt zum Beispiel einen Boom bei Mangas und englischsprachiger Literatur in der jugendlichen Zielgruppe. Und es gibt eine deutlich gestiegene Nachfrage nach Bilderbüchern für die Kleinsten. Viele Menschen suchen auch nach Hintergrundinformationen zu gesellschaftspolitischen Themen. Der Thementisch zum Ukrainekrieg ist einer unserer erfolgreichsten Thementische in diesem Segment. Und ich denke sogar: Das Interesse daran nimmt noch zu.
Herr Kretzschmar, wie kann man Geschäftsführer von Thalia sein, wenn Herr Busch als Sprecher der Gesellschafter in der Nähe ist? Können Sie frei agieren?
Ingo Kretzschmar: Michael Busch ist bereits seit 2016 auch Gesellschafter. Wir arbeiten seit 16 Jahren sehr gut zusammen, das werden wir auch weiterhin tun. Es ist natürlich in unserem Interesse, eine saubere Aufgabenverteilung zu haben. So wie Michael Busch vor mir, werde auch ich in meiner Rolle als CEO eigene Akzente setzen.
Die Grabsteine der Unersetzlichen
Wer Sie kennt, Herr Busch, kann sich nicht vorstellen, dass Sie abtreten.
Michael Busch: Die Wege zum Friedhof sind gepflastert mit den Grabsteinen der Unersetzlichen, so ein Sprichwort. Lieber zu früh aufhören als den einen Tag zu spät, wo alle schon darüber reden: Wer sagt es ihm eigentlich. Die wichtigste Botschaft unseres Stabwechsels ist folgende: Thalia ist eine Organisation von ganz Vielen, durch die wir geworden sind, was wir heute sind. Von dem kleinen Montanus sind wir zum größten Buchhändler Europas geworden. Und die Stadt Hagen kann sich freuen, dass ein großes Hagener Unternehmen jetzt von einem waschechten Hagener geführt wird.