Hagen. Musiker aus der Ukraine und aus Russland spielen bei den Hagener Philharmonikern harmonisch zusammen. Geht das angesichts des Krieges noch?
Künstler aus mehr als 30 Nationen arbeiten im Theater Hagen harmonisch zusammen, darunter Musiker aus Russland und der Ukraine. Geht das jetzt noch? Geigerin Alina Bazarova spielt im Philharmonischen Orchester derzeit gegen die Angst an. Der Bruder der jungen Ukrainerin steht vor Putins Panzern, die Eltern suchen in Kiew Schutz. Das Mobiltelefon ist die Nabelschnur zu den Lieben. Hoffen und Bangen bei jeder WhatsApp.
Evgeny Selitsky spielt, um die Nachrichten aus dem Kopf zu bekommen. „Ich schäme mich für mein Land“, sagt der russische Geiger. Auch er trage Verantwortung. „Ich hätte nie gedacht, dass so etwas möglich sein könnte. Ich war immer unpolitisch. Ich habe mich nicht für Politik interessiert und gehofft, dass die Politik sich nicht für mich interessiert.“ Nun geht das nicht mehr.
Trotzdem zusammen spielen
Wie können Alina und Evgeny weiter nebeneinander sitzen und herrliche Klänge entstehen lassen, wenn doch die Armee des einen Staatsbürgers unterdessen die Familie der anderen Staatsbürgerin beschießt? Die Frage stellt sich nicht, finden die beiden Musiker. Alina: „Wir spielen trotzdem zusammen. Eigentlich habe ich nichts gegen Russen. Evgeny ist ein Mensch wie ich, und er unterstützt mich immer.“ Alina ist eine Frau, die ihre Worte mit Bedacht wählt: „Mein ganzes Herz ist mit meiner Familie und meinem ganzen ukrainischen Volk“, betont sie. „Ich werde alles geben, um zu helfen, aber der Krieg muss ein Ende nehmen. Jeden Tag gibt es mehr Tote und Verletzte.“
Alina Bazarova wartet am 24. Februar auf dem Flughafen von Kiew auf ihre Maschine nach Deutschland, als Putins Armee ihr Land überfällt. Sie hat die Eltern besucht und Stunden bei ihrem Geigenprofessor genommen. Der Flug wird gestrichen, weil der Luftraum nicht mehr sicher ist, alle Busse fallen aus, Gottseidank ist ihr Bruder noch da und kann sie mit zurück in die Stadt nehmen. Unterwegs sehen sie, wie die Bevölkerung in die Supermärkte eilt, um sich mit Vorräten einzudecken. Lange Schlangen bilden sich an den Tankstellen.
Der letzte Platz im Bus
Gehen oder bleiben? Alinas Familie möchte, dass sie zurück nach Hagen fährt, solange das noch geht. Die 27-Jährige bereitet sich derzeit in Deutschland auf ihre Masterprüfung vor; in Hagen hat sie sich eine der begehrten Akademisten-Stellen bei den Philharmonikern erspielt, ein Programm zur Nachwuchsförderung. Alina kann einen der letzten Plätze im Überlandbus buchen und reist abends ab. Nach langem Aufenthalt an der Grenze erreicht sie nachmittags am 25. Februar Warschau. Der Anschlussbus nach Deutschland ist gerade weg. Ehrenamtliche sorgen am Bahnhof dafür, dass sie sich ein wenig ausruhen kann und kümmern sich um eine Mitfahrgelegenheit. Am 26. Februar um 16 Uhr endet die Fahrt endlich sicher in Hagen. „Alle Orchesterkollegen sind so nett und unterstützen mich. Auf der langen Reise haben die Kollegen mir geschrieben und gefragt, wie es mir geht. Das hat mir sehr geholfen. Die Aufmerksamkeit, das Mitgefühl der Kollegen, das hilft mir.“
Die Wahrheit wird verdreht
Evgeny Selitsky ist dankbar, „dass die ukrainischen Kollegen mich nicht als einen Feind sehen, was überhaupt nicht selbstverständlich ist“. Seit 2011 ist der 39-Jährige Stimmführer der Zweiten Geigen im Philharmonischen Orchester Hagen. Er lebt seit 2001 in Deutschland, hat einen russischen Pass und bisher immer versucht, Russland positiv zu sehen. In St. Petersburg wohnt noch die Großmutter, und die glaubt, was Putin sagt. Zuletzt konnte er vor der Corona-Pandemie zu ihr fahren. Dabei ist ihm bereits aufgefallen, wie sehr die Meinungsfreiheit eingeschränkt wurde und dass es bei Wahlen keine wirkliche Alternative mehr gab. Evgeny treibt es um, wie Putin die Wahrheit verdreht, dass es zum Beispiel verboten ist, Krieg zu dem Angriff auf die Ukraine sagen, „das ist genau wie bei Orwells ,1984‘.“
Alinas Eltern sind drei Tage nach dem Angriff Russlands in ein Dorf im Umkreis von Kiew geflüchtet. „Jetzt sind drei Granaten dort eingeschlagen, sie haben den Kindergarten getroffen und das Gebäude vom Dorfrat. Sieben Menschen wurden verletzt. In der Nähe gibt es eine Brotfabrik, die wurde von den Russen bombardiert. Dort gab es 17 Tote.“ Die Eltern versuchen derzeit, wieder zurück nach Kiew zu gelangen. In der Stadt soll es sicherer sein als im umkämpften Umland.
Musiker zeigen Solidarität
Überall auf der Welt stimmen Orchester in diesen Tagen die ukrainische Nationalhymne an, aus Solidarität mit dem ukrainischen Volk. Hilft das? „Auf jeden Fall“, meint Evgeny Selitsky. „Wir können das machen, was wir am besten können, um diesen schrecklichen Krieg zu stoppen. Wir Musiker wollen dadurch aufmerksam machen und Geld sammeln.“ Durch den Krieg hat sich Selitsky seine Herkunft wieder in Erinnerung gerufen: „Die Hälfte meiner Familie kommt aus der Ukraine. Meine Großeltern und mein Vater wurden noch in der Ukraine geboren. Die meisten Menschen in Russland haben Verwandte in der Ukraine. Daher ist Putins Angriff umso unverständlicher.“
Musik macht Hoffnung
Für Alina Bazarova wird die Musik zum Rettungsanker und Widerstandsinstrument zugleich: „Ich denke, wir müssen weiter arbeiten und jeder muss seine Arbeit machen, und wir als Musiker können mit unseren Lied jetzt Hoffnung in die Welt bringen. Es sind so viele schlimme Dinge passiert, und wir brauchen die seelische Unterstützung, die wir durch Musik bekommen können.“ Alina pausiert, um den nächsten Satz sorgfältig zu formulieren: „Wir spielen jetzt nicht zum Vergnügen, sondern wir spielen, weil wir leben und am Leben bleiben und wir sind dankbar.“