Lippstadt/Netphen/Iserlohn. Nur wenige Russlanddeutsche haben den Mut, sich über den Ukraine-Krieg offen zu äußern. Lesen Sie, wie sie denken und wovor sie sich fürchten.

Der Krieg in der Ukraine stellt Russlanddeutsche auf die Probe. Viele haben Verwandte in der Ukraine und in Russland. Die Meinungen zum Kampf im Osten Europas gehen dabei auseinander. Diese Zeitung hat mit Spätaussiedlern aus Südwestfalen gesprochen. Ihr Leben in der Region, berichten sie, sei schwerer geworden. Sie erleben Anfeindungen, selbst wenn sie Putin ablehnen. Manche haben sogar Angst, auf die Straße zu gehen.

„Rufen Sie mich nicht mehr an“, „Ich wünsche Ihnen Gesundheit und ein langes Leben, aber ich lege jetzt auf“ – zittrige, teilweise auch erboste Stimmen am anderen Ende der Leitung. Gesprächsversuche werden immer wieder abrupt beendet, sobald das Wort „Presse“ fällt. Es ist nicht leicht, zurzeit mit Russlanddeutschen ins Gespräch zu kommen. Eine Frau, die anonym bleiben möchte, erzählt, dass sie Russlanddeutsche kenne, die bereits der russischen Botschaft in Berlin Namen von Putin-Kritikern genannt hätten. Der russische Geheimdienst FSB, sagt sie, höre mit.

„Ich bin für Putin“

„Ich bin für Putin“, sagt dagegen Joran Fitler, der aus Südkasachstan stammt. Seit 1993 lebt er in Lippstadt. Der 64-jährige gelernte Maurer, der im Straßenbau tätig ist, versteht nicht, dass viele Menschen „diesen Konflikt“ so einseitig betrachteten: „Neun Jahre lang haben die Ukrainer im Donbas russische Zivilisten und auch Kinder mit Bomben verletzt.“ Und auch weiter argumentiert er, wie es die russische Regierung derzeit tut: „Seit 2013 gibt es dort Terrorismus und alle haben weggeschaut.“ Die USA und die Nato seien die „eigentlichen Provokateure“. Putin wolle „doch nur Ordnung schaffen“.

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Natürlich, so Fitler, sei ihm Frieden wichtig. Dem Westen wirft der 64-Jährige vor, Russland seit dem Zusammenbruch der UdSSR mit Arroganz und Überheblichkeit begegnet zu sein. „Und jetzt wird in Russland alles kaputtgemacht.“ Die Ukraine sei nicht „das beste Land der Welt“, wie es in London, Paris und Berlin dargestellt werde.

Vor dem Frühstück ruft der Sohn an

Rudolf Schaufler aus Netphen ist gegen Putins Krieg.
Rudolf Schaufler aus Netphen ist gegen Putins Krieg. © Michele Schulte

Rudolf Schaufler aus Netphen hingegen verurteilt den Krieg ohne Wenn und Aber. „Er ist das Letzte. Ich verabscheue ihn zutiefst. Er ist völkerrechtswidrig“, so der Rentner, der 1986 aus Samara am Ostufer der Wolga nach Deutschland ausgewandert ist. Der 74-Jährige leitet die Kreisgruppe Siegen-Wittgenstein der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. Jeden Morgen tauscht er sich seit Kriegsbeginn mit seinem ebenfalls in Deutschland lebenden Sohn über den Krieg aus. „Meistens noch vor dem Frühstück.“

Anfangs, berichtet Schaufler, habe er große Probleme gehabt, sich in Deutschland zurechtzufinden. „Wissen Sie, ich habe Verkehrswesen studiert, aber ohne Deutschkenntnisse war das nicht einfach.“ Elf Jahre arbeitete er unter anderem als Qualitätssicherheitsfachmann bei Elektrolux in Siegen.

Unangenehme Gespräche

Unangenehm ist es Rudolf Schaufler, über seine Verwandten in Russland zu sprechen. „Da ist der Krieg als Thema tabu.“ Er kenne kaum jemanden, der nicht hinter Putin stehe. Wenn man doch darüber rede, dann könne er sich „den Blödsinn“ nicht mehr anhören. „Die plappern Putin alles nach, zum Beispiel, wenn er öffentlich sagt, dass der ukrainische Präsident Selensky drogensüchtig sei.“ Vor allem seine Generation falle auf die Propaganda herein. Die meisten schauten sich im Internet nur russischsprachige Sender an. „Die kennen kein deutsches Fernsehen. Mit meiner Generation ist Demokratie in Russland nicht zu machen“, lautet sein Fazit. Auch die Landsmannschaft sei gespalten.

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Überall, so Schaufler, herrsche bei den russischsprachigen Deutschen Verunsicherung. Er kenne Familien, deren Kinder in der Schule beschimpft worden seien. „Das ist schlimm.“ Seine Frau, berichtet Schaufler, sei Russin. Die habe sich nie für Politik interessiert. „Jetzt steht sie mitten in der Nacht auf und schaut sich die neuesten Nachrichten an.“ Seit Kriegsausbruch am 24. Februar sitzt sie jede Nacht vor dem Fernseher. Sie ist so traurig, so sauer auf Putin.“

Sprachlose Verwandte

Rudolf Schaufler geht wegen der Pandemie selten vor die Haustür. „Höchstens einmal zum Arzt.“ Da erspare er sich zurzeit „wohl so manche Beleidigung, obwohl ich gegen den Krieg bin“. Er sei froh, damals aus Russland geflohen zu sein. „Bei mir schlagen nicht zwei Herzen in meiner Brust, sondern nur das deutsche.“ Das Siegerland, das sei seine Heimat.

Ludmila Esaulov.
Ludmila Esaulov. © WP/Yvonne Hinz | Yvonne Hinz

Ludmilla Esaulov leitet den Verein „Die Gemeinschaft der Deutschen aus Russland“ in Iserlohn. Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, die russische Sprache bei Aussiedlern aus dem Osten zu erhalten. Die 47-Jährige, die aus Kirgistan stammt, verabscheut Krieg allgemein. „90 Prozent unserer Mitglieder stammen aus Kasachstan. Die Mehrheit ist gegen den Krieg“, sagt sie. Viele Russlanddeutsche hätten mittlerweile Angst, auf die Straße zu gehen, weil sie als Russen, als Feinde angesehen würden. „Dabei helfen wir jedem, der Hilfe braucht. Egal ob er Ukrainer oder Russe ist.“

Russen den Eintritt verwehrt? Tochter ist empört über Video

Kürzlich habe ihre Tochter ihr eine Videosequenz auf dem Videoportal TikTok gezeigt. „Darauf war zu sehen, wie in einer Kneipe in Baden-Württemberg Russen der Eintritt verwehrt wurde. „Ich habe versucht, meine Tochter zu beruhigen. Sie hatte Redebedarf.“

Der ehemalige Versicherungskaufmann Nikolaj Martens aus Dortmund kam 1990 nach Deutschland. Über die Kriegsverbrechen in der Ukraine ist der 69-Jährige entsetzt. „So etwas hätte ich nie erwartet.“ Seine Eltern seien in der Ukraine geboren, im II. Weltkrieg nach Deutschland gekommen und von den Sowjets später nach Russland, nach Sibirien deportiert worden. „Wir sind Menschen aus der ehemaligen UdSSR, nicht aus Russland. Das ist ein Unterschied“, gibt der Rentner zu bedenken.

Das Wort „Krieg ist tabu

Martens sagt, dass er bis wenige Tage vor dem Krieg regelmäßig mit Freunden im Ural telefoniert habe. „Jetzt können wir nicht mehr mitein­ander sprechen, weil sie Angst haben, sich negativ über den Krieg zu äußern.“ Niemand wolle sich in Gefahr begeben. „Und keiner wagt es, das Wort Krieg auszusprechen.“

>> HINTERGRUND: Große Zahl an Russlanddeutschen

  • Seit 1970 sind laut Mikrozensus aus dem Jahre 2017 rund 2,4 Millionen Zuwanderer aus den Ex-Sowjetrepubliken nach Deutschland gekommen. Die meisten davon sind russlanddeutsche Spätaussiedler, die aus Kasachstan oder Russland stammen. Aktuell leben in der Russischen Föderation noch 394.000 Russlanddeutsche.
  • 700.000 Russlanddeutsche leben in NRW. Unter den 50.000 Spätaussiedlern, die in den vergangenen sieben Jahren nach Deutschland kamen, waren etwa ein Drittel aus der Ukraine.