Hagen. Der Dichter Rilke macht einen Umweg, um das neue Museum Folkwang 1905 in Hagen zu besichtigen. Hagen war der place to be für die junge Kunstszene.
Welche Aufmerksamkeit das erste Museum für moderne Kunst in Hagen erregt, wissen wir aus den Reaktionen der zeitgenössischen Kulturszene. Künstler, Dichter und Publizisten pilgern nach der Eröffnung des Museums Folkwang 1902 durch Karl Ernst Osthaus nach Hagen, meistens mit der Eisenbahn. Die Kunsthistoriker Gloria Köpnick und Rainer Stamm konnten für ihre Monographie „Karl Ernst und Gertrud Osthaus. Die Gründer des Folkwang-Museums und ihre Welt“ erstmals Briefe und weitere Dokumente aus Familienbesitz auswerten, die überraschende Erkenntnisse offenbaren.
So hat auch das Ehepaar Rilke tatsächlich Hagen besucht, bei einem Zwischenstopp auf dem Rückweg nach Paris. Rainer Maria Rilke verbringt kurz vor seinem 30. Geburtstag im Folkwang-Museum sogar „einen der besten Nachmittage“, die er je erlebte. „Am 31. Oktober 1905 besuchten der Dichter Rainer Maria Rilke und seine Frau, die Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff, eine der modernsten Kunstsammlungen ihrer Zeit: das private Museum Folkwang im westfälischen Hagen“, so fasst Rainer Stamm das Ergebnis seiner Recherchen zusammen.
Dankesbrief an Osthaus
Aufschluss über den Besuch gibt ein bisher unbekannter Dankesbrief aus Privatbesitz, den Rilke einen Tag später am 1. November 1905 aus dem Hotel Ernst in Köln an Osthaus schreibt: „Sehr verehrter Herr, das freundliche und reiche Erlebnis, zu dem uns der gestrige Nachmittag durch Ihre und Ihrer Frau Gemahlin Güte geworden ist, hat nicht aufgehört in uns zu wirken (…). Möchten Sie im Aufgreifen dieser Tatsache die herzliche Bewunderung erkennen, die ich für Ihre seltene Beziehung zu Kunstdingen hege und für diese Dinge selbst, die eine feine Betrachtung und eine große Liebe mit so sicherem Wissen vermählt hat.“
Auffällig an diesem Schreiben ist die Sprache. Rilke, der spätere große Dichter, drückt sich erstaunlich steif und gestelzt aus. Rainer Stamm erklärt das damit, dass Rilke zu diesem Zeitpunkt erst am Beginn seiner Begegnung mit zeitgenössischer Kunst steht und noch keine Begriffe kennt, das Gesehene adäquat zu übersetzen. Rilke hat erst wenige Wochen vor seinem Besuch in Hagen die Stelle eines Privatsekretärs bei Auguste Rodin angetreten, der in Meudon, vor den Toren von Paris, wohnt. Die Reise nach Hagen hängt dienstlich mit dieser Tätigkeit zusammen, beschreibt Rainer Stamm. „Am 21. Oktober war Rilke nach Dresden gereist, um dort, vor der ,Literarischen Gesellschaft‘, zum ersten Mal einen Vortrag über Rodin zu halten. Zwei Tage später wiederholte er seinen Vortrag in Prag, von wo aus er über Leipzig die Rückreise nach Paris antrat.“
Viele Grüße an die Gemahlin
In Schloss Friedelhausen zwischen Marburg und Gießen trifft Rilke dann seine Frau für die gemeinsame Weiterreise. Von dort bittet er Rodin per Telegramm um Aufschub: „Lassen Sie mich wissen, lieber Meister, ob Sie nicht verreisen werden; in diesem Fall werde ich noch Osthaus Hagen besuchen.“
Rilkes Frau, die Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff, ist naturgemäß eher vertraut mit der künstlerischen Avantgarde. Ihr Postskriptum unter dem Brief klingt entsprechend ungezwungener: „Ich freue mich so sehr, dass der große Maillol aus dem Salon noch zu Ihnen kommen wird. Das – und viele dankbare Grüße an Ihre Frau Gemahlin und für Sie möchte ich dem Brief meines Mannes noch mitgeben, der gleich herzlich auch von mir kommt.“
Der „große Maillol“
Mit dem „großen Maillol“ ist ein hockender Akt des Bildhauers Aristide Maillol gemeint, der im Pariser Herbstsalon 1905 erstmals präsentiert wird. „Osthaus orderte sogleich ein Exemplar für die eigene Sammlung“, so Stamm. In ihrem eigenen Museum haben der Millionärserbe Karl Ernst und seine Frau Gertrud schon bei der Eröffnung Namen wie Renoir präsentiert. Von einer Parisreise 1903 bringen sie Werke von Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Edvard Munch, Henri Rousseau, Auguste Rodin und eben Aristide Maillol mit in die Industrie- und Arbeiterstadt Hagen. „An keinem anderen Ort in jener Zeit waren solche Werke öffentlich zu sehen“, ordnet Stamm die Bedeutung der Sammlung ein.
Für Rainer Maria Rilke mag Hagen wohl ein Katalysator gewesen sein. Rainer Stamm: „In Paris sollten seine Augen reifen – und mit ihnen die Sprache, die ihn zu einem der wichtigsten Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts machte.“
Serie: Auf Besuch in Hagen
Das Museum Folkwang in Hagen ist das erste Museum für zeitgenössische Kunst weltweit. Um die Wunder der Sammlung zu bestaunen, pilgern zahlreiche Künstler und Zeitgenossen nach Hagen. In unserer Serie „Auf Besuch in Hagen“ stellen wir einige von ihnen vor.
Der Dichter Rainer Maria Rilke wurde am 4. Dezember 1875 in Prag geboren. Im Herbst 1900 hielt er sich im Künstlerdorf Worpswede auf, wo er die Bildhauerin Clara Westhoff kennenlernte. Sie heirateten 1901. 1902 reiste Rilke nach Paris und nahm eine Stelle bei Rodin an. Der Dichter starb am 29. Dezember 1926 in einem Sanatorium in der Schweiz.
Die Bildhauerin und Malerin Clara Westhoff wurde am 21. November 1878 in Bremen geboren und starb am 9. März 1954 in Fischerhude. Sie nahm bei Fritz Mackensen in Worpswede Unterricht und freundete sich mit den Modersohns an. Eine Jahr nach der Heirat mit Rilke wurde ihre Tochter geboren. 1919 siedelte Westhoff mit ihrer Tochter nach Fischerhude über, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Aus ihrem Wohnhaus mit Atelier wurde später das „Café Rilke“, das heute noch besteht. Sie hinterließ ein umfangreiches Werk und gilt als eine Pionierin der weiblichen Bildhauerei in Deutschland.
Rainer Stamm, Gloria Köpnick: Karl Ernst und Gertrud Osthaus: Die Gründer des Folkwang-Museums und ihre Welt. C.H. Beck, 29,95 €