Medebach. Open Mind Places: Kunstwerke im Sauerland von Christoph Hesse, die Menschen und Natur zusammenbringen. Warum die Documenta interessiert ist

Viele Dörfer auf dem Land drohen zu verlorenen Orten zu werden, aufgegeben, abgehängt. Der Künstler und Architekt Christoph Hesse hingegen sieht das Sauerland als Zukunftslabor. Wie das funktioniert, beweist Hesse mit den Open Mind Places, neun Landart-Installationen rund um seinen Heimatort Referinghausen im Stadtgebiet von Medebach/HSK. Diese Raumkunst-Konzepte sind bereits in Venedig, München und Berlin ausgestellt worden. Nun hat die Documenta in Kassel Christoph Hesse eingeladen, ähnliche Projekte während der 15. Weltkunstausstellung zu gestalten.

Die Menschheitsfragen stellen sich auf dem Dorf nicht anders als in der Metropole, aber vielleicht drängender und ungeschminkter. Verortung, Selbstbestimmung, Respekt gegenüber Mitmenschen und der Umwelt: „Uns geht es darum, Orte der Begegnung zu schaffen, zum Innehalten, Nachdenken, zum Austausch mit der Natur und anderen Menschen“, beschreibt Christoph Hesse seine Vision. Während zeitgenössische Kunst im öffentlichen Raum anderswo oft mit Ablehnung bewertet wird, hat in Referinghausen die Dorfgemeinschaft geholfen, die außergewöhnlichen Objekte zu erstellen.

Gleich am Beginn des sieben Kilometer langen Spazierweges, der die Open Mind Places rund um das Dorf verbindet, steht das „Unterholz“, Landmarke und Leuchtturm zugleich. Dazu muss man wissen, dass Referinghausen an der Heidenstraße liegt, einem 1000 Jahre alten Fernhandelsweg, der von Köln nach Osten führte. Jeder Transport auf der Heidenstraße war gleichzeitig ein Kulturtransfer, und der vollzog sich an den Gasthöfen entlang des Weges.

Identität stiften durch Verortung

Ein solches Gasthaus stand verfallen mitten im Ort. Jetzt hat die Ruine einen Platzhalter gefunden. In Christoph Hesses begehbarer Skulptur sind zwei Betonkuben so angeordnet, dass sie wie ein Tor funktionieren. Im Beton finden sich Abdrücke von Türen und Fenstern. „Die Dorfgemeinschaft hat alte Fenster und Türen gebracht, die wurden dann in den Beton gegossen.“ Der obere Teil der Installation besteht aus regionalem Holz, aus dem früher die Fachwerkhäuser gebaut wurden. Nachts wird er erleuchtet. So verwandelt Kunst den verwaisten Fleck in einen Ort des Miteinanders und in einen Wegweiser. „Die Türen und Fenster, das sind Zeichen von Identität. Identität ist nichts anderes als die Summe von gewissen Eigentümlichkeiten.“

Auch die weiteren permanenten Open Mind Places sind das Resultat von Transformation. Der Pflug, der Sonnenklang, der Himmelstropfen und der Heidentempel verwandeln Ortshistorie, Topographie und Sozialgeschichte in weithin sichtbare Zeichen von hohem Identifikationswert. Das „Oberholz“ leuchtet nachts ebenfalls, besteht aus Bahnschwellen und ermöglicht eine neue Perspektive auf das Dorf. „Wir haben einen Schwellenschneider im Nachbarort. Davon gibt es nur noch zwei oder drei in Deutschland. Wegen Corona ist er auf einer Charge sitzen geblieben. Die Installation ist komplett in Gemeinschaftsarbeit erstellt worden, viele haben geschleppt, einige haben Essen gebracht, andere einen Kasten Bier. Und dann haben sich ganz viele Menschen Gedanken über die Namen der Installationen gemacht.“

Aus Harvard zurück nach Referinghausen

Der „Pflug“ erinnert an die bäuerlichen Ursprünge des Dorfes, von hier aus lässt sich der Sonnenaufgang beobachten; über einen QR-Code gibt es Zugang zu einem mündlichen Archiv. Der „Sonnenklang“ wiederum fängt die Lichtstrahlen der Abendsonne und die Klänge des Ortes ein.

Christoph Hesse hat an der ETH Zürich und in Harvard/USA Architektur und Städtebau studiert. Danach ist er in seine Heimat zurückgekehrt. „Meine Jugendliebe war hier“, begründet er den Schritt, den viele nicht verstehen. Von Harvard nach Referinghausen. Wer macht denn sowas? „Das war schon eine bewusste Entscheidung.“ Der 44-Jährige gehört zu den jungen Frauen und Männern, die derzeit im Sauerland Zukunftsideen entwickeln. „Der ländliche Raum ist ein Vorreiter. Hier wird viel erfunden. All diese Gebiete haben eine hohe Innovationskraft.“

Junge Leute werden zu Erfindern

Referinghausen und Titmaringhausen zum Beispiel, die Nachbardörfer so fernab von jeder Großstadt, sind energieautark. Junge Leute entwickelten ein lokales Nahwärmenetz, das mit Biomasse betrieben wird. Hesse selbst ist inzwischen Vater von drei Kindern und eröffnete neben seinem Büro in Korbach eine Zweigstelle in Berlin; er lehrte an der TU Darmstadt und hat zurzeit eine Gastprofessur in Peking.

Der Funke springt über

Dass von den Open Mind Places in Referinghausen Funken überspringen bis zur Documenta 15 ab Juni in Kassel, ist eine schöne Resonanz. In kollektiver Gemeinschaft mit der lokalen BDA Gruppe werden dort sogenannte Reflection Points zwischen den Ausstellungen entworfen. Für die Karlsaue plant Hesse einen Kubus aus den Stämmen eines abgestorbenen Baumes, den seine Ur-Großmutter einst als Kind pflanzte.

Architektur und Kunst greifen für Christoph Hesse ineinander. „Es gibt in beiden Gattungen zwei große Themen: Wie reagieren wir auf den Klimawandel und die soziale Frage der auseinanderdriftenden Milieus? Wie können wir Menschen wieder zusammenbringen?“ Kunst ist die Schnittstelle. „Wir müssen über Kunst Orte der Erinnerung schaffen, der Gemeinschaft und der Erneuerung. Die Ressourcen, die wir hier haben sind die Menschen und die Kreativität der Menschen.“

Information und Anreise unter: www.sauerland.com und www.medebach-touristik.de