Siegen/Hagen. Im Einsatz wird ein Polizist schwer verletzt. Über die Bewährungsstrafe für den Täter herrscht Empörung. Freitag startet das Berufungsverfahren.

Die Erinnerung an diese Nacht ist auch heute noch weg, ausgelöscht von brutaler Gewalt. „Ich war seitdem noch einige Male an dem Tatort, aber es kommt nichts zurück. Das ist vielleicht auch besser so“, sagt der Polizeibeamte, der im Juli 2019 mit weiteren Kollegen zu einem Einsatz vor einer Siegener Diskothek gerufen wird. Schlägerei vor der Tür. Die Beamten greifen ein. Dann passiert, woran sich das Opfer nicht mehr erinnern kann, was aber im ersten Gerichtsverfahren durch Zeugenaussagen ausreichend rekonstruiert wurde: Während der Beamte auf einem der Prügelnden kniet und ihm die Handfesseln anlegen will, kommt in seinem Rücken ein Mann angelaufen und tritt dem Polizisten mit voller Wucht ins Gesicht.

Erstes Urteil ist eine Ermutigung, Polizisten anzugreifen

Folge: Schwerste Kopfverletzungen, Mehrfachfraktur des Kiefers, Schädel-Hirn-Trauma, partielle Amnesie, bis heute andauernde Nervenschädigung im Gesicht. Im Oktober 2021 fällte das Amtsgericht Siegen das Urteil: ein Jahr und sieben Monate auf Bewährung für den Täter – ein damals 24 Jahre alter Dortmunder – wegen gefährlicher Körperverletzung. Ein Delikt, das ein Strafmaß von bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe vorsieht.

Unter Polizeibeamten gilt das Urteil als Skandal, als Ermutigung, Polizeibeamteanzugreifen. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten gefordert, womit eine Bewährung nicht mehr möglich gewesen wäre. Sie ging in Berufung. In zweiter Instanz wird nun ab Freitag vor dem Landgericht Siegen neu verhandelt.

„Als ich von dem Urteil hörte, war ich perplex“, sagt der 36-Jährige: „Bei einer solch massiven Gewaltanwendung sendet dieses Urteil ein völlig falsches Signal.“ Zweimal wurde er operiert, zur ersten Fixierung wurden Stifte in den Kiefer montiert, die das Öffnen des Mundes komplett verhinderten. „Ich konnte nicht einmal sprechen“, erinnert sich der Beamte.

Innenminister Herbert Reul ruft im Krankenhaus an

Kurz danach wurden Platten eingesetzt. Eine Woche Krankenhaus, zwei Wochen keine feste Nahrung, vier Wochen dienstunfähig, Rückkehr in den Außendienst erst nach rund drei Monaten. Die Besonderheit dieses Falles wird vielleicht auch dadurch deutlich, dass sich Innenminister Herbert Reul (CDU) telefonisch im Krankenhaus meldete, um dem Patienten Besserungswünsche zu übermitteln.

Der Fall hat Symbolcharakter, da Angriffe auf Polizeibeamte und andere Rettungskräfte in den vergangenen Jahren zu einem schwerwiegenden Problem geworden sind. Tätliche Angriffe wie leichte und schwere Körperverletzung, sowie Totschlag und Mord nahmen laut Statistik der Polizei von 2019 auf 2020 deutlich zu.

„Solche Attacken sind kein Alltag, aber sie sind auch keine Seltenheit mehr“, sagt Michael Mertens, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in NRW, bis zur Jahrtausendwende selbst im Wach- und Wechseldienst unterwegs: „Mich hat damals die Uniform geschützt“, sagt er, „heute ist das nicht mehr so. Im Gegenteil: Wenn die Polizei eintrifft, richtet sich nicht selten die volle Aggression gegen sie als Vertreter des Staates. Täter sind oft die, die sich gesellschaftlich abgehängt fühlen und unzufrieden sind.“

Was das Gericht zugunsten des Angeklagten wertete

Aber gerade weil es sich nicht nur um einen Angriff auf einen Menschen, sondern auch um einen Angriff auf den Staat handele, müsse eindeutig Einhalt geboten werden. „Wenn wir davon reden, dass Strafen auch eine abschreckende Wirkung haben sollten, dann wirkt dieses Urteil gefühlt wie ein Freispruch. Hier kommt Täterschutz vor Opferschutz – und das ist nicht richtig.“

Das Amtsgericht kam im Oktober zu der Auffassung, dass der Täter „aus vollem Lauf und mit dem beschuhten Fuß“ dem Polizisten ins Gesicht getreten und somit in Kauf genommen habe, „das Leben des Opfers zu gefährden“. Zugunsten des Angeklagten wertete das Gericht jedoch, dass er zum damaligen Zeitpunkt nicht vorbestraft war, dass er die ihm zur Last gelegten Taten weitgehend eingeräumt und er sich nach seiner Verhaftung wenige Tage nach der Attacke eine Woche lang in U-Haft befunden habe. Die Anwältin des Angeklagten ließ eine Anfrage dieser Redaktion unbeantwortet.

Entschuldigung erst nach zwei Jahren im Gerichtssaal

Der Polizeibeamte ist mittlerweile wieder wie gewohnt im Dienst. Er sagt, dass zum Glück nichts zurückgeblieben sei, dass er seine Arbeit weiterhin gern mache. Im Gesicht hat er eine kleine Stelle, an der er nichts fühlt, die taub ist und taub bleibt wegen des Tritts damals. Kein Drama im Alltag, aber eine Erinnerung an das, was passiert ist.

Der Täter, sagt er, habe sich zwar entschuldigt, allerdings erst im Gerichtssaal und – wie der Beamte findet – wenig glaubhaft. „Zwei Jahre lang hat er nichts in meine Richtung unternommen, um dann am ersten Prozesstag von einem Blatt Papier abzulesen, dass es ihm leid tue. Das kann man sich auch sparen.“