Lüdenscheid. In Corona-Zeiten nimmt die Zahl der Übergriffe auf Rettungskräfte zu. Der Verein Soko Respekt wirbt für mehr Rücksicht und hat stetigen Zulauf.

Silvester. Feuer-Front Lüdenscheider Fußgängerzone: Wie Leuchtspurmunition bahnen sich Raketen ihren Weg zum Feuerwehrfahrzeug. Rettungskräfte eilen durch Rauchschwaden zum Brandherd. Der Adrenalinspiegel steigt… „Wir hatten Glück, dass keiner verletzt wurde“, erinnert sich Jens Hoffmann, der damals dabei war. „Es war ein verdammt gefährlicher Einsatz“, berichtet der 44-jährige Feuerwehrmann aus Lüdenscheid, der Vorsitzender des Vereins „SoKo Respekt“ (mehrrespekt.de) ist.

Tägliche Beleidigungen

Seit fünf Jahren setzen sich die Mitglieder des Vereins ehrenamtlich mit Kampagnen für mehr Rücksicht gegenüber den Menschen ein, die sich tagtäglich für das Gemeinwesen engagieren: für Polizeibeamte, Feuerwehrmänner und Rettungssanitäter. Und die Zahl der Mitglieder steigt stetig: „1435 sind es zurzeit.“ In Corona-Zeiten, so der Sauerländer, hätten die Beleidigungen und die körperliche Gewalt gegen Rettungskräfte „nicht gerade abgenommen“.

Der Lüdenscheider Feuerwehrmann Jens Hoffmann, 1. Vorsitzender Soko Respekt.
Der Lüdenscheider Feuerwehrmann Jens Hoffmann, 1. Vorsitzender Soko Respekt. © Handout | Handout

Jens Hoffmann, der seit 1999 seinen Beruf ausübt, und seit Jahren Notrufe (112) in der Feuer- und Rettungsleitstelle des Märkischen Kreises entgegennimmt, hat selbst viele negative Erfahrungen gesammelt. „Es gibt Menschen, die wollen Helfer verletzen.“ Stetig wachse die Zahl der Berichte über Autofahrer, deren Geduldsfaden reißt, weil sie vor einem Rettungswagen im Stau stehen, oder über Rettungssanitäter, die von ihren Patienten bespuckt und getreten werden. „Alles, was Sie sich vorstellen können, ist schon einmal geschehen“, erzählt er.

Fehlende Studien

Hoffmann bedauert, dass repräsentative Studien fehlen. Untersuchungen des Deutschen Roten Kreuzes und der Ruhr-Universität Bochum (siehe Infobox) hätten aber ergeben, dass in fast der Hälfte der gemeldeten Fälle, bei denen es um Angriffe auf Rettungskräfte ging, Menschen aggressiv wurden, denen geholfen werden sollte. „Und meistens ist Alkohol im Spiel.“ Trotz erhöhter medialer Aufmerksamkeit müssten sich Helfer immer noch fast täglich um ihre körperliche Unversehrtheit sorgen.

Dass die Fallzahlen auf einem konstant hohen Niveau stagnieren, bestätigt das Innenministerium: In NRW wurden 2018 insgesamt 686 Gewaltakte gegen Rettungsdienste verübt, 2020 waren es 767.

Das Bild des starken Feuerwehrmannes

„Dabei ist die Dunkelziffer hoch“, sagt Hoffmann. Und daran könnten auch die Helfer selbst etwas ändern: „Viele versuchen beim Rettungseinsatz, dem Bild des starken Feuerwehrmannes oder Polizisten zu entsprechen. Sie schlucken den Stinkefinger, die verbalen Attacken, den Rempler herunter.“ Nur wenn jede Attacke gemeldet würde, dringe die Dimension der Verrohung weiter ins Bewusstsein der Öffentlichkeit.

Hoffmann begrüßt es, dass das Land NRW ein neues Meldesystem für Gewalt gegen Einsatzkräfte in zwölf Städten testen will. Über das „Innovative Melde- und Erfassungssystem Gewaltübergriffe“ (IMEG) sollen verbale und körperliche Angriffe leichter online erfasst werden können. Das könne die Bearbeitung der Fälle beschleunigen.

Sensationslüsterne Gaffer

In den letzten zehn Jahren seien sensationslüsterne Gaffer zu einem der größten Probleme für Rettungskräfte geworden, berichtet der 44-Jährige. Ihr respektloses Verhalten nähre sich von der Gier nach Selbstdarstellung in den sozialen Netzwerken. Innerhalb von Sekunden würden nach einer Karambolage Smartphones gezückt und oft Helfer bei ihrer Arbeit behindert. „Ganz nach dem Motto: 1 Kind, 1 Verkehrsunfall, 1000 Likes.“ Die digitale Nabelschnur zur Außenwelt sei gerade in der Pandemie für junge Menschen wichtiger geworden. Der Drang zur sozialen Selbstvergewisserung lasse Dämme brechen.

Prävention und Selbstverteidigung

Für Hoffmann liegt die Lösung in der Prävention: „Die Kultur der Mitmenschlichkeit, des Mitgefühls, des Respekts muss bereits im Kindesalter vermittelt werden.“ Da seien Eltern und Lehrer gefragt. Eine schulische Auseinandersetzung im Umgang mit sozialen Medien sieht er als dringend geboten an: „Nicht als Handlungsempfehlung des Schulministeriums, sondern als fester Bestandteil des Unterrichts.“

Der Verein SoKo Respekt plant derweil eine bundesweite Kooperation mit anderen Vereinen und Verbänden und will in Zukunft sein Netzwerk weiter ausbauen, um betroffenen Rettungskräften psychologische Beratungsstellen in der Nähe nennen zu können.

Selbstverteidigung

„Es muss dringend etwas geschehen“, appelliert Jens Hoffmann. Er erinnert sich ungern an einen vor wenigen Jahren ereigneten Unfall auf der A 46. Feuerwehrmänner wurden bei der Bergung zweier Leichen aus einem Fahrzeug behindert. „Zuvor hatten Schaulustige bereits in die sozialen Netzwerken ein Bild des Unfallwagens mit erkennbarem Nummernschild gejagt. Inklusive Zeile: totgefahren.“ Er habe damals gehofft, dass keine Mutter, kein Vater den Wagen seines Sohnes erkannt hat. „Irgendwann reicht es.“

Gott sei Dank, sagt Hoffmann, sei in jeder Fortbildung für Rettungskräfte Deeskalation ein Thema. „Damit nicht das Schlimmste eintritt und man sich zurückziehen muss.“ Selbstverteidigung, zum Beispiel, wie Rettungskräfte jemanden entwaffnen können, gehöre mittlerweile zum Standardprogramm. Der Feuerwehrmann aus Lüdenscheid kennt aber auch Fälle, da tragen Rettungssanitäter ihre Verbandsschere im Gürtel, um sich notfalls verteidigen zu können. „Soweit“, sagt er, „ist es schon gekommen.“