Lüdenscheid. Markus Scholz wurde mit einem verkürzten Arm geboren. Ist die Arznei Duogynon verantwortlich? Wie er und seine Mutter nach der Wahrheit suchen.

Er hat gelernt mit den Blicken umzugehen. Er weiß, dass Passanten sich fragen, was mit seinem linken Arm passiert ist. Seit der Geburt ist sein Unterarm verkürzt. „Die Momente, in denen mich die fragenden Augen nerven, sind selten“, sagt Markus Scholz

Der 46 Jahre alte Sauerländer ist überzeugt, dass das Hormonpräparat Duogynon für seine Beeinträchtigung verantwortlich ist. Das Mittel wurde seiner Mutter in der Frühschwangerschaft gespritzt.

Bis 1981 in Deutschland auf dem Markt

Der Verein „Netzwerk Duogynonopfer“ spricht von einem Arzneimittelskandal wie der um das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan. Aber: ein aus seiner Sicht bis heute vertuschter Skandal.

Auch wenn bereits in den 60-er und 70-er Jahren in der Öffentlichkeit über mögliche schädliche Nebenwirkungen diskutiert wurde, war Duogynon in Deutschland bis 1981 auf dem Markt. „Wäre Duogynon nach dem Aufdecken des Contergan-Skandals vom Markt verschwunden“, sagt Markus Scholz, „hätte ich heute zwei Arme.“

Humangenetiker: „Eine Laune der Natur“

Carmen Scholz (68) sucht seit 46 Jahren die Wahrheit. „Ich bin eine einfache Mutter, die wissen will, woher die Behinderung meines Sohnes kommt.“ Ein Humangenetiker der Universität Münster sagte einst zu ihr, dass Markus eine Laune der Natur sei. „Das war nicht die Antwort für mich“, so die Sauerländerin.

In ihrer Wohnung finden sich zahlreiche Aktenordner. In einem der Ordner ist eine ärztliche Bescheinigung abgeheftet. Darauf steht, dass ihr am „6. Juni 74 eine Duogynon-simplex Citole injiziert“ wurde.

Eine normale Schwangerschaft

Sie sei an dem Tag zum Arzt gegangen, erzählt Carmen Scholz. Weil sie mit ihrer Monatsblutung über der Zeit war, spritzte ihr der Mediziner Duogynon.

„Die Schwangerschaft war völlig normal“, blickt die 68-Jährige zurück. Markus war sehr lebhaft: „Ich habe zu meinem Mann gesagt: ,Wir bekommen bestimmt einen Fußballer. Hände und Füße hat er jedenfalls‘.“

Bilderbuchgeburt im Februar 1975

Nach der Bilderbuchgeburt am 16. Februar 1975 wurde Carmen Scholz ihr Sohn weggenommen. „Mein Sonntagskind“, wie sie sagt. Irgendwann kam ein Arzt ins Zimmer und berichtete, dass etwas mit dem neugeborenen Jungen nicht stimme.

Bevor Markus für drei Wochen fernab seiner Mutter in eine Kinderklinik verlegt wurde, gab der Mediziner Carmen Scholz noch den Rat, immer den Ärmel der Kleidung herunterzuziehen, wenn sie sich die Blicke der Menschen ersparen möchte.

Verstecken war nie eine Option

Verstecken? Für Carmen Scholz war dies nie eine Option. Sie erinnert sich an eine Busfahrt zur Krankengymnastik. Eine Frau neben ihr regte sich auf. Der Anblick sei eine Zumutung, ob sie nicht eine Decke über den Arm des Kindes legen könne. „Das habe ich natürlich nicht gemacht. Ich musste lernen, dass wir im Visier der Leute waren“, sagt sie, „ich wusste immer: Du musst die Stärkere sein.“

Ehemann Wolfgang sitzt neben ihr im Wohnzimmer und blickt seine Frau ein ums andere Mal bewundernd an. „Sie war immer die Starke“, sagt er, „sie hat nie den Arm versteckt, auch wenn die Menschen in den Kinderwagen schauten und Schnappatmung bekamen.“

Markus Scholz im Alter von vier Jahren beim Familienurlaub an der Ostsee.
Markus Scholz im Alter von vier Jahren beim Familienurlaub an der Ostsee. © Privat

Heute, mit 46 Jahren, kann Markus Scholz guten Gewissens sagen, dass er ein normales Leben führt. Der zweifache Vater und Vertriebsleiter eines Stahlverarbeiters hat es von Geburt an nicht anders gekannt, als eine „Einschränkung“ zu haben, wie er es nennt. Der sportliche Sauerländer hat Fußball gespielt und ist Ski gefahren. Er pflegt einen großen Freundeskreis.

Armprothese schnell wieder abgelegt

Als Schüler bekam er eine Armprothese. Nach kurzer Zeit hat er sie wieder abgelegt: „Es war kein Hilfsmittel für mich.“ Schon als Kind, erinnert sich seine Mutter, habe er gesagt, er sei halt so geboren. „Er hat das einfach angenommen. Ich bin so stolz auf ihn, dass er sich nie hat unterkriegen lassen.“

Erst drei Jahre nach Markus‘ Geburt wurde Carmen und Wolfgang Scholz bewusst, dass seine Einschränkung mit der Einnahme von Duogynon zusammenhängen könnte. Der „Stern“ hatte über Missbildungen bei Neugeborenen berichtet.

Strafanzeige eingereicht: Ermittlungen nach fünf Monaten eingestellt

1981 reichte Carmen Scholz Strafanzeige wegen Körperverletzung gegen die Schering AG ein. Die Ermittlungen wurden fünf Monate später eingestellt. Begründung: Das Strafrecht schütze ungeborenes Leben nicht.

Wieder Bewegung in der Angelegenheit

Carmen Scholz hat anschließend die Aktenordner zur Seite gestellt. Sieben Jahre nach Markus‘ Geburt wurde dessen Schwester Daniela geboren. Ein gesundes Kind. „Ich wollte nicht, dass Markus mit seiner Beeinträchtigung als Einzelkind aufwächst“, sagt sie.

Erst als der Allgäuer Lehrer André Sommer (45) im Jahr 2010 gegen die Bayer AG klagte, kam wieder Bewegung in die Sache. Sommer kam mit Schädigungen an der Blase zur Welt, er musste seitdem immer wieder operiert werden. Seine Klage wurde zwar wegen Verjährung abgewiesen, aber Duogynon rückt seitdem auch durch das Netzwerk Duogynonopfer Schritt für Schritt mehr in die Öffentlichkeit.

Petitionsausschuss des Bundestages befasst sich mit dem Thema

Soeben hat der Petitionsausschuss des Bundestages das Bundesgesundheitsministerium zu einer Aufklärung in Sachen Duogynon aufgefordert und die Einrichtung eines Entschädigungsfonds ins Gespräch gebracht. Zugleich hat das Ministerium versprochen, eine Studie in Auftrag zu geben, die der Frage nachgehen soll, ob die Aufsichtsbehörden seinerzeit das Medikament hätten vom Markt nehmen müssen.

„Ich hoffe auf eine unabhängige Untersuchung“, sagt Carmen Scholz, „es müssen auch die Opfer miteinbezogen werden, die ihr Leben lang leiden.“ Die Scholz‘ sind viele Jahre mit anderen Familien zu Bayer-Jahreshauptversammlungen gegangen und haben auf Transparenten und Plakaten auf die Duogynon-Problematik hingewiesen.

Bayer AG verneint Zusammenhang

Das Unternehmen hat stets betont, dass kein Zusammenhang zwischen der Medikamenteneinnahme und der Missbildungen erwiesen sei. „Die Grünenthal GmbH als Hersteller des Medikaments Contergan hat sich wenigstens nach 50 Jahren entschuldigt“, sagt Carmen Scholz. „Ich hoffe, dass Bayer auch diese Größe zeigt. Das würde uns Betroffenen ein besseres Gefühl geben.“

Markus Scholz erzählt von seiner Schwester Daniela, die zusammen mit André Sommer und Unterstützern im Berliner Landesarchiv in Akten des Ermittlungsverfahrens von 1978 von frühen Diskussionen bei Schering über mögliche Gefahren durch die Einnahme von Duogynon gelesen habe.

Hoffen auf eine zügige Anerkennung

„Für mich ist es erwiesen“, sagt er, dass das Medikament dafür verantwortlich ist, dass ich nur einen Arm habe. Es geht jetzt darum, dass das endlich eingestanden wird und eine große Ungerechtigkeit beendet wird.“

Familie Scholz will weiterkämpfen. Um die zügige Anerkennung eines wenig beachteten mutmaßlichen Medikamentenskandals und eine angemessene Entschädigung für alle Opfer.

„So gut wie jeder Bundesbürger hat schon einmal von Contergan gehört“, sagt Markus Scholz. Duogynon dagegen sei in der Öffentlichkeit kaum bekannt. „Dabei stehen dahinter so viele Schicksale, die ganze Familien bis heute belasten. Ein fortwährendes Trauma.“

>>HINTERGRUND: Das sagt die Bayer AG

  • Duogynon wurde ab 1950 von Schering (heute Bayer) als Schwangerschaftstest verkauft. Die heute üblichen Tests gab es noch nicht. In den 70-er Jahren stoppten britische Behörden den Vertrieb, nachdem Missbildungen bekannt wurden.
  • Weltweit behaupten hunderte Menschen, dass Duogynon u.a. missgebildete Gliedmaßen, urologische Schäden, Herzfehler oder Gehirnschäden verursacht habe. Mehr als 600 mutmaßliche Opfer in Deutschland sind bei Verbänden erfasst, in Großbritannien 800.
  • Die Bayer AG schließt Duogynon „als Ursache für embryonale Missbildungen aus“, betont Sprecher Oliver Renner. Es seien bereits in den 70-er und 80-er Jahren Untersuchungen und Gutachten „namhafter Experten“ zur Aufklärung möglicher Ursachen durchgeführt worden, „ohne dass sich daraus Hinweise auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Duogynon und den seinerzeit gemeldeten Fällen ergaben“.
  • Zum gleichen Ergebnis seien die damals in England angestrengten Gerichtsverfahren und das Ermittlungsverfahren in Deutschland gekommen. Renner verweist darauf, dass keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse bekannt seien, „die die Gültigkeit der damaligen Bewertung in Frage stellen“.
  • Die Fragen dieser Zeitung, ob man sich gegebenenfalls an einem Entschädigungsfonds beteilige oder man im Laufe der Jahre Kontakt zu Familien aufgenommen habe, die behaupten, dass Duogynon für eine Behinderung verantwortlich ist, ließ Bayer AG unbeantwortet.