Brilon. Im Rat Brilons ist die Redezeit begrenzt. Legitim oder unfair - das klärt das Oberverwaltungsgericht. „Keine Partei darf mundtot gemacht werden.“
Der demokratische Senator Strom Thurmond hat es verdientermaßen in die Geschichtsbücher gebracht. Am denkwürdigen 28. August 1957 hielt er vor dem US-Senat eine 24 Stunden und 18 Minuten lange Rede. Thurmond zitierte nicht nur die Wahlgesetze aller Bundesstaaten, sondern ließ sich auch über Kuchenrezepte seiner Großmutter aus. Der Politiker hatte seine Marathonrede vorher angekündigt, Senatskollegen waren mit Decken erschienen.
Klage eingereicht: Briloner Rat beschließt Redezeitbeschränkung 2018
Dagegen sind die Rats- und Ausschusssitzungen in Brilon ein Kaffeekränzchen. Und doch erschien der Ratsmehrheit von CDU und SPD im Juli 2018 mancher Redebeitrag allzu ausufernd, so dass sie eine Redezeitbeschränkung von höchstens fünf Minuten pro Beitrag und maximal zwei Wortmeldungen beim selben Tagesordnungspunkt beschloss. Fünf Ratsmitglieder von der FDP, der Linken und der Briloner Bürgerliste (BBL) klagten dagegen. Der Rechtsstreit ist mittlerweile beim Oberverwaltungsgericht NRW in Münster angekommen.
Eberhard Fisch ist Direktor des Amtsgerichts Marsberg und nebenbei Fraktionsvorsitzender der CDU im Briloner Rat. Fragt man ihn, ob einst in Rats- und Ausschusssitzungen zu viel geredet wurde, kommt seine Antwort wie aus der Pistole geschossen: ein langgezogenes „jaaaa“. Das Rederecht sei bisweilen überstrapaziert worden. Die Neuregelung habe sich positiv ausgewirkt, findet Fisch: „Die Rede-Disziplin ist jetzt deutlich größer.“
Kläger: „Wir Kleinen haben das Nachsehen“
Reinhard Loos ist einer der fünf Kläger. Der Lokalpolitiker der Briloner Bürgerliste (BBL) ist in dieser Wahlperiode nicht mehr Ratsmitglied, er tritt aber als sachkundiger Bürger in Ausschüssen auf. Die Klagen hätten ihre Berechtigung, findet er: „Für mich ist die Häufigkeit der Wortmeldungen pro Tagesordnungspunkt wichtiger als die Länge der Redebeiträge. Die großen Fraktionen können die Wortbeiträge unter ihren Mitgliedern aufteilen. Wir Kleinen haben das Nachsehen.“
Zudem, so findet Loos, sei es die Pflicht eines Ratsmitglieds, „bei schlechten Vorlagen der Verwaltung“ Nachfragen oder Anträge zu stellen. „Bei nur zwei Wortmeldungen ist das schwierig.“ CDU-Mann Fisch hat für seine Fraktion Maßnahmen entwickelt, um langwierige Beratungen im Rat oder in Ausschüssen zu vermeiden: „Wir versuchen, so weit wie möglich, Detailfragen vorab in Fraktionssitzungen zu klären. Oder ich rufe die Verwaltung im Vorfeld an, dass wir zu Tagesordnungspunkt X noch genauere Erläuterungen bräuchten. Dann können sich die Rathaus-Mitarbeiter gezielt darauf vorbereiten.“
Soest beschließt feste Start- und Endzeiten der Sitzungen
Eckhard Ruthemeyer ist 1. Vizepräsident des Städte- und Gemeindebundes NRW und Bürgermeister von Soest. Er findet: „Redezeitbegrenzungen in Ratssitzungen können sinnvoll sein, um die Arbeitsfähigkeit zu erhalten.“
Schließlich säßen dort Menschen, die ihr ehrenamtliches politisches Engagement mit beruflichen und familiären Dingen in Einklang bringen müssten. „Die haben bei Sitzungsbeginn oft schon einen vollen Arbeitstag hinter sich und müssen sich dann auf die Sitzung konzentrieren.“ Andererseits, so Ruthemeyer weiter, müssten wichtige Sachfragen in einer „angemessenen Tiefe“ debattiert werden können. „Dabei bemisst sich der Wert von Redebeiträgen nicht in ihrer Länge, sondern in der inhaltlichen Qualität.“
Nach der letzten Kommunalwahl hat der neu gewählte Rat in Soest die Länge der einzelnen Rats- und Ausschusssitzungen auf vier Stunden beschränkt. Ruthemeyer: „Indem für Sitzungsbeginn und -ende feste Uhrzeiten festgelegt wurden, nämlich 18 und 22 Uhr.“
Polit-Experte: „Keine Partei darf mundtot gemacht werden“
Hintergrund sind offenbar teils ausufernde Sitzungen in der vergangenen Legislaturperiode. „In einzelnen Gremien wie dem Stadtentwicklungsausschuss oder im Rat war es zu Marathonsitzungen gekommen“, so der Bürgermeister, „die teilweise nachts um 23 Uhr unterbrochen und vertagt werden mussten.“
Norbert Kersting ist Politikwissenschaftler an der Universität Münster und ist im Briloner Stadtteil Alme aufgewachsen. Er hält es für legitim, die Redezeit zu reglementieren. „Aber das muss fair geschehen: Keine Partei oder Liste darf mundtot gemacht werden. Gleichzeitig darf der Minderheitenschutz aber nicht missbraucht werden.“
Grundsätzlich gelte, so Kersting, dass sich im Laufe der Zeit auf kommunaler Ebene immer mehr kleine Parteien und freie Wählergemeinschaften etabliert hätten. Durch die Zersplitterung eines Rates könnten daher Tagesordnungen durchaus „explodieren“. Aber: Seit der Privatisierung in deutschen Kommunen in den 90er Jahren – Beispiel: Stadtwerke – seien viele Themen, die früher in Ratssitzungen diskutiert wurden, weggefallen: „Dadurch verlaufen heutzutage Ratssitzungen zum Teil deutlich kürzer als früher.“
Keine NRW-weite Regelung in Kommunalparlamenten
Dem Politikwissenschaftler zufolge gibt es keine NRW-weite Regelung im Umgang mit Redezeiten in Kommunalparlamenten. Das Thema werde sehr unterschiedlich gehandhabt. „Einige Kommunen haben überhaupt keine Regelungen. Zumal unterhalb der Gemeindeordnung viel Spielraum für offene Lösungen ist.“ Man könnte beispielsweise Nachfragen oder Anträge auch schriftlich einreichen, ohne sie ausschweifend verbal zu begründen. Außerdem habe ein Bürgermeister die Möglichkeit, straff durch eine Sitzung zu führen. „Aber das muss mit Fingerspitzengefühl geschehen.“
Ob US-Senator Strom Thurmond im Jahr 1957 nach seiner 24-Stunden-und-18-Minuten-Rede nach seinem Fingerspitzengefühl gefragt wurde, ist nicht bekannt. Beobachter wollten allerdings von ihm wissen, wie er es bloß geschafft habe, die ganze Zeit über nicht auf die Toilette zu müssen. Er habe ein paar Saunagänge absolviert, erklärte Thurmond - damit sein Körper genügend Wasser aufnehmen konnte.