Lippstadt/Hagen. Corona führt zum gesellschaftlichem Burnout, sagt Psychotherapeutin Dr. Petra Hunold. Warum sie den Drang zur Mallorca-Reise für normal hält.

Das „Wir schaffen das“-Gefühl scheint verflogen. Die zart blühenden Erfolge der vergangenen Monate mit sinkenden Inzidenzwerten und der Bereitstellung von Impfstoffen wirken zu Beginn des Frühlings verwelkt. Die Corona-Pandemie nimmt in diesen Tagen wieder weiter an Fahrt auf, die dritte Welle ist da. Auf der Suche nach Freiheit im Lockdown findet jeder seine eigenen Lösungen, das „Wir“ ist bei vielen Menschen dem „Ich“ gewichen. Ist das nur ein Gefühl oder ist das tatsächlich so? Dr. Petra Hunold ist Chefärztin in der LWL-Klinik in Lippstadt, wo sie depressive Menschen behandelt. Für die Ärztin und Psychotherapeutin ist die derzeitige Situation vergleichbar mit einem gesellschaftlichen Burnout.

Frau Dr. Hunold, ist es rücksichtslos, in dieser Zeit nach Mallorca zu fliegen?

Dr. Petra Hunold: Medizinisch betrachtet natürlich. Innerseelisch kann man eine solche Reise aber auch als Ausdruck eines verzweifelten Wunsches nach Normalität verstehen. Seit Beginn der Pandemie verändert sich unsere Lebenswirklichkeit, man wacht auf und fühlt sich wie in einer dystopischen Szenerie. Das Normale erscheint für uns unerreichbar. Das möchten wir ausblenden, in dem wir auf alte Mechanismen zurückgreifen.

Aber auf Mallorca gelten doch auch Abstandsregeln und Maskenpflicht – kommen Urlauber bei einer Reise nicht vom Regen in die Traufe?

Absolut, aber es ist ein Weg aus dem Alltag. Weg von den schlechten Nachrichten, hin zur Erholung. Das ist absolut nachvollziehbar und eine Bewältigungsstrategie gegen die Depression. Wer jetzt reist, sucht seine innere Befreiung. Nur wird er diese dort auch nicht erleben, spätestens nach der Rückkehr nach Deutschland ist alles wie gewohnt. Man nimmt eine Auszeit von der neuen Normalität und hofft auf Hoffnung.

Dr. Petra Hunold . Die Psychologin ist Chefärztin der LWL-Klinik in Lippstadt
Dr. Petra Hunold . Die Psychologin ist Chefärztin der LWL-Klinik in Lippstadt © LWL Lippstadt | LWL Lippstadt

Weil es hier keine Hoffnung mehr gibt?

Wir verlieren vor allem die Kontrolle, und das passt uns gar nicht. In unserer heutigen Leistungsgesellschaft sind wir es gewohnt, alles im Griff zu haben. Es gibt immer und für alles eine Lösung. Ist das Schweinefleisch verpestet, führen wir stärkere Kontrollen ein. Gibt es vermehrt Straftaten, greifen wir härter durch. Das funktioniert aber bei Corona nicht so wie gewohnt. Aktuell gibt es keine Lösung für das Problem, zumindest haben wir das Vertrauen in die Lösungen verloren.

Hat die Gesellschaft vielleicht die Angst vor dem Coronavirus verloren?

In gewisser Weise sicher. Angst ist ein Gefühl, an das man sich gewöhnt und so tritt auch in Bezug auf Corona eine Gewöhnung ein. Wir sind auf einer anderen Ebene angekommen, auf der viele keine Sorge mehr davor haben, sich mit dem Virus anzustecken. Im Buch „Der kleine Prinz“ heißt es: Zähmen heißt, sich vertraut machen. Wir fühlen uns sicherer, sind es aber nicht. Die Angst vor der Pandemie ist der Sorge gewichen, dass sich hier ja sowieso nichts ändert. Viele Menschen sind jetzt auf der Ebene angelangt, auf der uns Befürchtungen begleiten, uns nicht mehr frei entwickeln zu können, wo wir finanzielle und soziale Ängste verspüren. Das eigentliche Problem wird dabei ausgeblendet. Die Seele will auch leben, wir wollen nicht nur einfach funktionieren.

Wenn wir das Gefühl haben, dass sich sowieso nichts ändert, verlieren wir auch das Vertrauen in die Entscheidungsträger. Warum ist das so?

Weil wir merken, dass die Politiker, die für uns Entscheidungen treffen, auch nur Menschen sind. Die kennen das Virus auch gerade erst oder lernen es immer wieder neu kennen. Zu Beginn der Pandemie wirkte es leicht, denen zu vertrauen. Wir befolgen die Anweisungen, halten zusammen und singen vom Balkon, alles wird gut. Nun sehen wir aber, dass nicht jede Entscheidung richtig war und beurteilen die Maßnahmen aus der rückwärtigen Perspektive. Wir wollen in Krisen jemanden haben, der uns mit Gewissheit sagen kann, wo es lang geht, wir wollen jemanden, der uns beruhigt, eine starke Person. Niemand befolgt Anweisungen von jemandem, der selbst nicht weiß, wohin es geht.

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Also ist dieser Vertrauensverlust vollkommen normal?

Ja, und das ist in gewisser Hinsicht auch richtig. Wir sollten in jeder Situation kritisch reflektieren, was die Politiker entscheiden und in diesem Sinne misstrauen. Diese Haltung beständig und in allen Bereichen aufrecht zu erhalten, ist aber anstrengend. Lieber hätten wir einen, der schlau ist – und der uns, von der Pflicht zu denken, entbindet. Jemanden, der Experte ist in einem Bereich, den wir selbst nicht genau kennen.

Sollten wir nicht trotz dieses Vertrauensverlusts von uns aus Angst haben, dass sich mehr Menschen mit dem Virus infizieren und die Situation so außer Kontrolle gerät?

Es ist belastend und überaus anstrengend, sich mit beständig neuen Katastrophenmeldungen auseinanderzusetzen. Dabei ist es wichtig, nicht in Panik zu geraten. Wir können die Situation nicht wirklich kontrollieren und müssen dennoch besonnen bleiben – das ist schwierig, und so redet der Mensch sich gerne ein, dass er alles „schon in den Griff bekommen“ wird. Das ist nicht verwerflich und auch vollkommen normal, wir suchen Gewohnheit und Beruhigung.

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Wir unterdrücken unsere Angst. Was macht das mit den Menschen im Umgang mit der Corona-Pandemie?

Das macht jeder unterschiedlich, es gibt verschiedene Umgangsformen. Die einen isolieren sich und ziehen sich auf sich selbst zurück, andere versuchen, durch die Einhaltung aller Regeln eine scheinbare Sicherheit zu erlangen. Andere geraten in wildes Agieren, protestieren gegen die Maßnahmen oder erklären einem Keim den Krieg. Der Großteil aber fühlt sich depressiv, nachdem er anfangs noch alles getan und geholfen hat, und resigniert. Das ist die Kapitulation in dieser Situation, vergleichbar mit einem Burnout.

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Demnach haben wir einen gesellschaftlichen Burnout?

Das kann man meiner Meinung nach zu 100 Prozent so sagen. Corona verfolgt uns überall hin, ist allgegenwärtig – und das macht uns fix und fertig.

Wie können wir dem entgegenwirken?

Indem wir uns immer wieder remoralisieren. Das Bild wieder zurechtrücken und uns bewusst werden, dass wir das Schlimmste bereits hinter uns haben. Es gibt eine Perspektive, die Hoffnung macht. Daran sollten wir uns festhalten.

>> ZUR PERSON: Dr. Petra Hunold

  • Dr. Petra Hunold ist seit 2012 Chefärztin am Zentrum für Depressionsbehandlung der Kliniken Lippstadt und Warstein des Landschaftsverbands.
  • In Köln studierte Hunold Humanmedizin, ehe sie eine fachärztliche Ausbildung in der Evangelischen Nervenklinik Stiftung Tannenhof in Remscheid machte.