Bergkamen/Hagen. Vor 59 Jahren beginnt die Impfkampagne gegen Polio. Für Hans-Joachim Wöbbeking kommt sie damals zu spät. Heute wirbt er für die Corona-Impfung.

Kurz vor Beginn der Tagesschau verlässt Hans-Joachim Wöbbeking als kleiner Junge immer das Wohnzimmer. Er findet es schrecklich, was dann im Fernseher läuft. Über den Bildschirm flackert die Aufforderung für die Schluckimpfung gegen eine Pandemie: Poliomyelitis, besser bekannt als Polio. Er hasst die Bilder, denn für ihn kommt die Impfung zu spät. Er leidet bereits an der Kinderlähmung, die er gerade überlebt hat, die ihn weiter einschränken und Jahrzehnte später wieder einholen wird.

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Er sitzt in diesen Tagen zuhause in seinem Rollstuhl. Das Coronavirus sorgt für Stillstand im öffentlichen Leben. Einen Stillstand, dessen Ende mit der Öffnung der Impfzentren am Montag eingeläutet werden soll. Ein Tag, der in Zukunft vielleicht vergleichbar ist mit dem 5. Februar 1962 – der Tag, an dem durch die Impfkampagne gegen Polio ein historischer Siegeszug über eine Epidemie begann.

Drei Monate in der eisernen Lunge

Zehn Jahre vor dem Start dieser Erfolgsgeschichte erkrankt Wöbbeking in Hannover, drei Jahre ist er da gerade einmal alt. Sein Leben liegt in den Händen der Ärzte. Allein drei Monate verbringt er in der „eisernen Lunge“ – ein Gerät, das als erster Vorläufer für die aktuell so wichtigen Beatmungsmaschinen gilt. „Das war ein schrecklicher Apparat, aber nur so konnte ich ohne Beschwerden atmen“, sagt der heute 71-Jährige. Tag und Nacht liegt er eingehüllt in einer Maschine aus kaltem Eisen, die ihm das Leben rettet. Jahre danach trägt Wöbbeking Schienen von den Füßen bis zur Hüfte. Erst mit 18 Jahren benötigt er die Laufhilfen nicht mehr.

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Eine normale Jugend hat er nicht. Beim Volleyball wird er oft als Letzter gewählt. Wöbbeking geht gerne Tanzen, doch oft lehnen ihn die Anderen als Tanzpartner ab. „Dann habe ich mir eben eine andere gesucht“, erinnert er sich. Er lacht. Er ist keinem böse. „Das war nun einmal Teil meines Lebens.“ Sein Leben normalisiert sich in der Folge, die Krankheit macht sich kaum noch bemerkbar. Jahrzehntelang fährt Wöbbeking beruflich in Bergkamen sogar unter Tage.

Ein Stück Zucker rettet Leben

In seiner Jugend ist die Sorge vor der Kinderlähmung, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt ist, omnipräsent. Die Angst, das eigene Kind könne sich mit Polio anstecken, ist bei vielen Eltern groß. „In fast jeder Familie gab es Betroffene“, erinnert sich Wöbbeking.

Drei Tropfen des Impfstoffes wurden damals auf einen Zuckerwürfel geträufelt. So sollte das Mittel leichter an Millionen Kinder verabreicht werden. Ärzte und Krankenschwestern kommen in die Schulen, um zu impfen. Mit Erfolg. Der Wunsch nach einer Impfung zum Schutz des eigenen Kindes überlagert jegliche Bedenken.

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1995 wird Wöbbeking von der Vergangenheit eingeholt. Das Post-Polio-Syndrom (PPS) sorgt für eine schwere Atmung, große Müdigkeit und diffuse Schmerzen. Die Spätfolgen der Krankheit zwingen ihn in den Rollstuhl. In der Kinderheilanstalt Hannover, wo Wöbbeking als kleines Kind am Leben gehalten wurde, bekommt er später die Diagnose PPS. Die Erinnerungen an seine Kindheit kommen sofort zurück. Wöbbeking hört die Kinder von damals in den Räumen schreien.

Bürger glauben an die Impfung

Rund 100.000 Fälle der Polio sind seitdem in Deutschland bis heute bekannt. Seit fast 20 Jahren gilt die Krankheit in fast allen Ländern der Welt als besiegt. Dass die Epidemie, die weltweit grassierte und viele tausend Opfer forderte, heute kein Thema mehr ist, liegt an der Impfung.

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Bedenken gab es zu Beginn der Impfkampagne seinerzeit wie heute, nur auf einer anderen Grundlage. „Die Skepsis in der Wissenschaft war angebracht“, sagt Hans-Joachim Wöbbeking. Erste vielversprechende Präparate sorgten nicht für den erhofften Durchbruch, immer wieder sollte es Rückschläge geben. „In der Bevölkerung aber war die Zustimmung groß“, sagt er. Die Impfung machte das Leben unbeschwerter, bald war Polio neben den täglichen Werbeclips im Fernsehen nicht mehr präsent.

Kein Verständnis für Impfgegner und Corona-Leugner

Sich nicht gegen eine tödliche oder zumindest schwerwiegende Krankheit impfen zu lassen, war nach Beginn der Impfkampagne im Februar 1962 undenkbar. Auch deshalb hat Hans-Joachim Wöbbeking nur wenig Verständnis für kategorische Impfgegner. Die Diskussion um die Impfung gegen das Coronavirus empfindet er als emotional zu sehr aufgeladen, ähnlich wie die Proteste gegen die Einschränkungen des öffentlichen Lebens. „Die Menschen sollten dankbar sein, dass sie jemand vor dieser Krankheit schützen möchte.“

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Es gibt keine andere Wahl als sich impfen zu lassen. Da ist sich Wöbbeking sicher. Wochenlang vermeldete das Robert-Koch-Institut 1000 und mehr tägliche Todesfälle aufgrund der Corona-Pandemie. „Das sind 30.000 Tote in einem Monat.“ Auch im Bundesverband Poliomyelitis, bei dem der Bergkamener als zweiter Vorsitzender aktiv ist, ist die Meinung beim Thema Impfen eindeutig – pro Impfung. „Und das obwohl wir auch Menschen in unseren Reihen haben, die mit Impfschäden leben“, sagt Wöbbeking.

Bei ihm selbst konnte es nicht zu Impfschäden kommen. Einen wirksamen Impfstoff sollte es erst zehn Jahre nach seiner Erkrankung geben. Hans-Joachim Wöbbeking hätte sich gewünscht, dass es den Impfstoff gegen die Krankheit, die ihn sein Leben lang begleiten sollte, früher gegeben hätte.