Hagen. Corona bestimmt den Alltag. Selbstverständlichkeiten von früher erscheinen uns unendlich kostbar. Neun Menschen sagen, was ihnen fehlt.
Seit fast einem Jahr begleitet uns das Coronavirus, gefährdet unser Leben, macht unser Leben schwer. Nichts ist mehr, wie es war - und ein Ende noch nicht in Sicht. Aber es gibt Dinge, auf die es sich zu freuen lohnt. Dinge, die wir jetzt schmerzlich vermissen. Welche das sind? Neun Menschen erzählen stellvertretend für Milionen andere, wonach sie sich sehnen.
Umarmungen
"Ich vermisse es, meine Liebsten zu umarmen, vor allem meine 88-jährige Mutter und meine beiden erwachsenen Töchter. Wenn man sich sieht, dann nur mit Abstand. Das fällt mir unheimlich schwer, weil man ja manchmal einfach Danke sagen möchte, oder weil man Trost oder Zuversicht spenden möchte und denjenigen dann gern nah bei sich spüren möchte. Das geht derzeit nicht und das fühlt sich kühl an und traurig und unnatürlich.
Ich merke schon, wie mich das beschäftigt und wie emotional mich das macht. Meine Mutter besuche ich mehrmals in der Woche, um für sie da zu sein und sie zu unterstützen. Mit meinen Töchtern treffe ich mich gelegentlich zu Spaziergängen. So sieht man sich und kann man persönlich miteinander reden. Ich bemerke, dass ich immer öfter an die alten Zeiten denke, als eine Umarmung selbstverständlich und voller Herzenswärme war. Hoffen wir, dass diese Zeiten schneller wiederkommen und wir uns in die Arme schließen können.“
Silvia Werne (51) aus Hagen
Konzerte
"Ich war in den vergangenen 16 Jahren auf vielen Konzerten und Festivals: 471 sind es Stand jetzt, um genau zu sein. Ich habe sie alle aufgeschrieben mit den Bands, die ich sah, und den Orten, an denen ich war, darunter welche in den USA, in Schweden, in Irland, den Niederlanden. Auf eine Musikrichtung bin ich nicht festgelegt: Ich sah Rammstein hier und Helene Fischer dort. Wenn ich mit meinen Freunden zu einem Konzert unterwegs bin, dann fühle ich mich unendlich frei.
Man lässt die Sorgen hinter sich und lässt sich auf die Musik ein. Live klingt sie jedes Mal noch besser, noch direkter, ist sie noch bewegender. Wenn die Musik traurig ist, dann habe ich schon mit Tränen in den Augen einfach dagestanden und zugehört. 59 Konzerte in einem Jahr sind mein Rekord. Für ein Konzert reiste ich schonmal allein nach London – ohne Übernachtung. Nun war ich zuletzt im Februar bei einem Konzert - und es fehlt mir einfach sehr.
Christian Benner (35) aus Siegen
Schützenwesen
Das Schützenwesen besteht aus viel mehr als nur dem eigenen Schützenfest, auch wenn es natürlich der Höhepunkt des Jahres ist. Unser Terminplan für ein ganzes Jahr passt normalerweise nicht auf ein DIN-A4-Blatt: Wir besuchen andere Vereine und deren Feste, helfen bei der Organisation von Osterfeuern oder Nikolausfeiern, besuchen das Fest der Freiwilligen Feuerwehr.
All das lag und liegt brach. Dieses Gefühl von Gemeinschaft, von Zusammensein ist in diesem Jahr auf der Strecke geblieben, obwohl wir das, was ging, versucht haben. Ich und viele andere vermissen die Normalität, den Austausch, die Gespräche. Über die Dauer eines Jahres werden Freundschaften geknüpft und vertieft. Das Schützenwesen ist Teil der Sauerländer Identität, Teil eines Sauerländer Zusammengehörigkeitsgefühls, das wir nicht so fördern konnten wie wir wollten. Hoffen wir, dass bald alles besser wird.
Michael Elbers (48) aus Menden, Offizier und stellvertretender Oberst in der St. Hubertus-Schützenbruderschaft Lürbke
Lächeln
Das Lächeln fehlt im doppelten Sinne: Zum einen haben viele Menschen nicht mehr viel zu lächeln, weil sie um ihren Job fürchten müssen oder ihn schon verloren haben. Zum anderen fehlt das Lächeln im Alltag, weil es hinter einer Maske versteckt bleibt. Ich ahnte nicht, dass mir das so fehlen würde, ich habe es erst gemerkt, als es nicht mehr da war. Wie beim Stromausfall.
Ein Lächeln – selbst von jemand Fremdem im Einkaufsladen – kann mir den Tag retten. Dieses Lächeln fehlt – und je länger es fehlt, desto mehr geht es verloren. Wir sind wegen der permanenten Anspannung ohnehin schon gehemmter im Umgang, müssen Abstand halten. Wenn wir dann nicht einmal sehen, was das Gesicht des anderen aussagt, dann wissen wir nicht, wie wir miteinander umgehen sollen.
Carina Möllers-Beuing (37) aus Gevelsberg mit ihren Kindern Lukas (15) und Loni (12)
Stadion
Wenn Samstag ist, ich frei habe und weiß, Schalke spielt heute, dann kribbelt es schon bei mir. Dann denke ich um 11 Uhr: Jetzt müsstest du dich langsam mal fertig machen, um mit den Jungs aus dem Fanklub Gerlingen wie fast immer loszufahren. Seit 1992 habe ich eine Dauerkarte, Stehplatz, Nordkurve, mittendrin im Getümmel.
Ich habe schon fast Entzugserscheinungen: sich auf den Weg zu machen, die Bekannten im Stadion zu sehen, mal abschalten zu können und auch ein Ventil zu haben nach fünf, sechs Tagen Arbeit als Koch – das vermisse ich. Im Stadion zu sein, ist eine Art von Entspannung. Hinzu kommt, dass die Schalker gerade so schlecht dastehen. Ich habe das Gefühl: Die können gar nicht spielen ohne uns, ohne die Fans. Das tut doppelt weh.
Nils Guthardt (36) aus Hünsborn
Fußball-Training
Ein paar Wochen lang war es ganz schön, keinen Tritt vors Schienbein zu bekommen und mal alle Wehwehchen auszukurieren. Aber mittlerweile vermisse ich auch das, was sonst weniger Spaß macht: die Pendelläufe auf dem Platz, den aufbrausenden Trainer, die Schürfwunde am Montag vom Spiel am Sonntag. Es ist schwer, sich allein zu motivieren, laufen zu gehen.
Ich will zurück auf den Platz, nicht nur trainieren, sondern auch spielen, weil die Anspannung eine andere ist und man dort die Energie entladen kann, die sich bei der Arbeit oder an der Uni aufgestaut hat. Ich würde gern meine Mannschaftskameraden wiedersehen, die Gemeinschaft wieder erleben, wenn wir in der schimmeligen Kabine sitzen, uns gegenseitig Sprüche drücken und gemeinsam ein Feierabendbier nehmen.
Jan Völkel (21), Student aus Hagen und Fußballspieler bei der SpVg. Hagen 1911
Universität
Im Februar war ich zuletzt an der Uni. Ich bin im vierten Semester, die Hälfte meines bisherigen Studiums ist also von Corona betroffen. Das Schlimmste ist im Moment das Alleinsein, allein sein mit dem Lernstoff, weil Lerngruppen sich nicht treffen können. Allein sein mit den Entscheidungen, wann was für die Uni zu tun ist. Alleinsein aber auch physisch, weil man seine Kommilitonen nicht treffen kann, weil man nicht gemeinsam in der Mensa sitzen kann, weil man nicht auf WG-Partys gehen kann oder was auch immer. Ein bisschen fühle ich mich beraubt um diese Zeit, die für viele Menschen die aufregendste und unbeschwerteste ihres Lebens ist.
In den ersten zwei Semestern habe ich das alles erleben dürfen, aber plötzlich war das alles weg. Es braucht viel Disziplin und Selbstorganisation, um den Anforderungen gerecht zu werden. Aber selbst dann bleibt man sich selbst überlassen und fühlt die Unsicherheit, weil man sich zwar digital miteinander vernetzt, der tägliche Austausch aber trotzdem fehlt. Ich kenne sogar Kommilitonen, die sich in Behandlung begeben mussten, weil diese Zeit ohne Kontakte sie so trifft.
Sarah Wiemers (22), Studentin aus Hagen
Feiern
„Für mich und viele in meinem direkten Freundeskreis waren die letzten Monate schon eine starke Veränderung. Der kulturelle und soziale Einbruch ist deutlich spürbar. Aus meiner Sicht kann man schon mal zwei, drei Monate auf viele Dinge verzichten. Das tat auch gut und ich habe dadurch eine andere Sichtweise auf das Leben.
Doch jetzt vermisse ich das Partyleben. Ich gehe gern in Metalclubs - geschlossen. Und auch die Kneipen haben zu. Das ist schon hart! Ich würde gerne einfach mal wieder mit meinen Leuten richtig feiern gehen. Mir fehlt es unter Leuten zu sein, mich mit den Musikern zu unterhalten oder einfach mal mit Freunden auf eine Kneipentour zu gehen. Hoffentlich ist dies bald wieder im normalen Rahmen möglich.“
Daniel Hofmann (35) aus Marsberg
Urlaub
"Am meisten vermisse ich die Vorfreude, die ab dem Tag der Urlaubsbuchung entsteht. Vor 2 Jahren haben mein Mann und ich das Reisen auf einem Kreuzfahrtschiff für uns entdeckt. Wir buchen immer schon sehr früh unsere Reisen und da viele Ziele in einem kurzen Zeitraum angefahren werden, geht ab dem Tag der Buchung die Planung los. Ich leihe alle Reiseführer aus der Bücherei aus, durchsuche Internetforen, erstelle eine Übersicht: welche Stadt bietet welche Sehenswürdigkeiten und welche Agenturen bieten passende Touren an oder können wir doch auf eigene Faust alle Ziele erreichen?! Zuletzt waren wir über Weihnachten und Silvester 2019 auf einer Asien-Kreuzfahrt. Angefangen hat unsere Reiselust, nachdem wir auf den Seychellen geheiratet haben.
Es ist immer wieder einmalig, andere Länder zu sehen, Nationalgerichte zu probieren, andere Kulturen zu erfahren, andere Pflanzen und Tiere zu entdecken, neue Menschen kennenzulernen. Die Erinnerungen daran begeistern uns auch Jahre danach noch. Ich habe eine Weltkarte zu Hause mit Zielen, an denen wir bereits waren, und mit Zielen, die wir gern noch bereisen würden. Dass das im Moment nicht geht und wir auch nicht wissen, wann das sichere Reisen und das Sammeln von neuen Erinnerungen wieder möglich ist, vermissen wir am meisten."
Alexandra Gehse (40) aus Hagen