Siegen. Hoffnung auf baldige Enkel-Besuche und Tränen in den Augen: So liefen die ersten Corona-Impfungen in einem Seniorenheim in Siegen.

Erika Löwer ist am Sonntag um 7.45 Uhr im Marienheim in Siegen-Weidenau als einer der ersten Menschen in NRW gegen das Corona-Virus geimpft worden. Für die 95-Jährige ist es nach Weihnachten das größte Geschenk. Die Prozedur selbst dauert nur wenige Sekunden. Der Arzt Florian Becher nimmt die Impfdose, stellt sie auf den Kopf und führt die Einwegspritze ein. Sie reicht ihm ihren linken Arm. Ein Piks. Fertig. „Es ist aufregend, etwas Besonderes“, sagt die Siegerländerin.

Die Augen verraten hinter der Maske der ehemaligen Sacharbeiterin in einem Stahlwerk ein Lächeln. „Ich freue mich, bald wieder unbeschwerte Besuche von meinen Enkeln und Urenkeln zu erhalten.“ Zuletzt werden noch die persönlichen Daten von Erika Löwer notiert, um sicherzugehen, dass sie pünktlich in drei Wochen die zweite Impfung erhält. Ansonsten wäre alles umsonst. Mit den Worten „Das war es schon?“ verlässt sie den Raum und geht wieder in ihr Zimmer.

Ein Senior mit Rollator ist als nächster an der Reihe. 110 Bewohner des Pflegeheimes werden ihm noch folgen. Die Stühle auf dem Flur füllen sich derweil. Angeregt unterhalten sich die Senioren. Einige fühlen sich privilegiert, die ersten zu sein, die „das Ende des Virus einläuten“.

6.55 Uhr: Erste Impfung wurde zeitlich immer weiter vorgezogen

Mit den Worten „Morgen gegen 12 Uhr kommt der Impfstoff“ waren die Senioren in dem Pflegeheim am Tag zuvor zu Bett gegangen. „Und viele wollten die Ankunft des Impfstoffes mit eigenen Augen sehen“, berichtet Pflegekraft Ina Pietrzyk, die am frühen Morgen zuhause aufgeregt den ersten Kaffee trank und die Spitzenmeldung im Radio verfolgte. Die 29-jährige Kreuztalerin verpasste, wie viele andere auch, den Moment.

Erika Löwer hat als erste NRW-Bürgerin die Corona-Impfung bekommen. Die 95-Jährige lebt im Siegener Marienheim. Rund 9500 Menschen sind am Sonntag gegen das Virus geimpft worden.
Erika Löwer hat als erste NRW-Bürgerin die Corona-Impfung bekommen. Die 95-Jährige lebt im Siegener Marienheim. Rund 9500 Menschen sind am Sonntag gegen das Virus geimpft worden.

Stunde um Stunde wurde die Anlieferung vorgezogen. Zuletzt von 9 auf 8 Uhr. Als es dann um 6.55 Uhr soweit war, erblickte niemand hinter Fenstern des Heimes den Kühlwagen der Bremer Logistikfirma Kühne&Nagel, der aus einem geheim gehaltenen Zentrallager anrollte und vor dem Haupteingang parkte, wie Heimleiter Jörg Boenig erzählt. Männer mit Handschuhen brachten in weißen Kisten verpackte Kanülen, Spritzen und den gut gekühlten und lang erwarteten Impfstoff der Mainzer Firma Biontech. Aus den Behältern entstiegen allerdings keine kalten Dämpfe, da er für kurze Strecken nicht bei minus 70 Grad gelagert werden muss.

„106 von 116 Bewohnern lassen sich impfen“, berichtet Jörg Boenig, der sich den heutigen Tag sehnsüchtig herbeigesehnt hat. Sechs Bewohner seien im Krankenhaus, vier hätten die Impfung verweigert. „Eine Impfquote von 95 Prozent sei „sehr, sehr gut“. Seit Anfang des Jahres, erzählt der Heimleiter, stünden alle im Marienheim unter enormem Druck. Jeder einzelne, ob Mitarbeiter oder Bewohner, habe auf typische Symptome für eine Covid-19-Erkrankung geachtet. „Das war anstrengend.“ Von großen Ausbrüchen sei das Heim aber verschont geblieben.

95 Prozent: Sehr hohe Impfquote im Marienheim in Siegen

Mit dem Marienheim in Siegen-Weidenau hat die größte Impfkampagne in der Geschichte des Landes begonnen. In allen 53 Kreisen und kreisfreien Städten wurden am Sonntag jeweils 180 Impfdosen an Bewohner und Mitarbeiter verabreicht. Am Montag gibt es keine Lieferungen. Erst am Dienstag und Mittwoch werden weitere Pflege- und Senioreneinrichtungen versorgt. Bis zum Jahresende erwartet das Land mehr als 270.000 weitere Impfdosen.

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Für Michael Klock, der gemeinsam mit Florian Becher als niedergelassener Arzt eine Praxis führt und als Mediziner für das Marienheim zuständig ist, ist es ein besonderer Moment. Beide impfen einen Heimbewohner nach dem anderen. Beantworten Fragen. Bleiben ruhig und sachlich. Um 9.15 Uhr ist die erste Wohnetage „durchgeimpft“. „In zwei bis drei Tagen sind dann alle im Marienheim versorgt“, ergänzt Klock – und verrät, dass er überglücklich über den Start der Impfungen sei. Emotionen seien hier freilich fehl am Platz, es zähle routinierte Arbeit.

Auch Landrat Andreas Müller ist vor Ort. Er zeigt sich positiv überrascht über die hohe Impfbereitschaft der Bewohner im Marienheim: „Ein großer Dank gilt insbesondere der exzellenten Aufklärung der Seniorinnen und Senioren.“ Diese habe eine so überragende Impfquote möglich gemacht. Nun hänge „die Latte“ für andere Einrichtungen sehr hoch.

Licht am Ende des Tunnels – doch der ist lang

Thomas Gehrke, Leiter des Impfzentrums Siegen, spricht von „Licht am Ende des Tunnels“. Er warnte zugleich, dass es sich noch um einen Impfmarathon handle: „Eine flächendeckende Impfung wird erst im September 2021 möglich sein. Dann, wenn die Hausärzte mit dem Impfstoff beliefert werden.“ Das Hauptproblem sei nach wie vor, dass die Produktion mit der Nachfrage nicht Schritt halte. Der ehemalige Chefarzt der Klinik für Chirurgie des Kreisklinikums Siegen ist sich aber sicher, dass Ende des kommenden Jahres 65 Prozent der Menschen in Deutschland geimpft sind.

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Erika Löwer hat als erste NRW-Bürgerin die Corona-Impfung bekommen. Die 95-Jährige lebt im Siegener Marienheim. Rund 9500 Menschen sind am Sonntag gegen das Virus geimpft worden.
Von Sina Heilmann und Stefan Meinhardt

Im Gespräch mit dieser Zeitung spart der ehemalige Chirurg nicht mit Kritik an den Medien: „Gerade in den letzten Wochen gab es zu viele schlechte Nachrichten.“ Über allergische Reaktionen, die der Impfstoff auslöse und und und... Dabei hätte der Fokus vielmehr auf die Hoffnung, die der Impfstoff verbreitet, liegen sollen. „Aber auch diejenigen, die jetzt noch zweifeln, ob sie sich impfen lassen sollen, werden irgendwann folgen“, so Thomas Gehrke. „Spätestens dann, wenn die Rolling Stones auftreten und man nur mit einem Hinweis, dass man geimpft ist, zum Konzert darf.“

Corona-Impfung: „Das habe ich mir so gewünscht“

Julia Stahlmann (29) kümmert sich derweil um die in der Mehrzahl auf dem Flur wartenden Seniorinnen. Die Pflegedienstleiterin, die seit 12 Jahren im Marienheim arbeitet, koordiniert am heutigen Impftag die Reihenfolge und beantwortet den Heimbewohnern geduldig Fragen. Sie wirkt beruhigend auf alle anwesenden. „Ja“, gesteht sie, „ich spüre eine gewisse Anspannung“. Und die werde sich auch nach dem Impftermin nicht so schnell legen.

„Seit Monaten haben wir mit der Angst gekämpft, dass das Virus auch bei uns ins Haus kommt. Corona hat uns Tag für Tag verfolgt. Das legt sich nicht so schnell.“ Die Impfung sei ein Anfang. Aber auch nach der zweiten Impfung müssten noch weiterhin Masken getragen und AHA-Regeln eingehalten werden. Es dauere eben, bis das Virus endgültig besiegt sei.

Gerhard Stähler stehen Tränen in den Augen als er an der Reihe ist. Der 80-Jährige setzt sich vor die beiden Ärzte, krempelt den Ärmel hoch und hebt ihn an. Michael Klock drückt ihn sacht wieder herunter. Ein Piks. Schon ist es vorbei. „Das habe ich mir so gewünscht“, sagt der Senior und rollt mit seinem Rollator aus dem Impfraum.