Finnentrop. Kapuzinermönch Bruder Joachim lebt seit sechs Jahren als Einsiedler in Finnentrop-Schliprüthen. „Viele haben verlernt zu warten“, sagt er.
Das alte Pfarrhaus neben der Kirche St. Georg im Finnentroper Ortsteil Schliprüthen ist ein schmuckes Fachwerk-Gebäude von 1795. „Ich bin froh, dass ich hier meinen Lebensrhythmus leben kann“, sagt Bruder Joachim Wrede und bittet den Reporter, am anderen Ende des Holztisches Platz zu nehmen. In Sichtweite ein Regal mit Akten und ein Kopiergerät.
Der große Abstand ist corona-bedingt, es liegt nicht daran, wie vermutet werden könnte, dass der Sauerländer menschenscheu wäre. Der Kapuzinermönch lebt seit sechs Jahren in der Einsiedelei St. Franziskus in dem 150-Seelen-Ort. In aller Stille und Abgeschiedenheit.
Zunächst ein Lehramts-Studium begonnen
Bruder Joachim hat gelernt, zu warten. „Mit 14, 15 Jahren war mir klar, dass ich diesen Weg gehen will“, sagt der gebürtige Warsteiner. Nach dem Abitur leistete er zunächst seinen Grundwehrdienst und begann – „auf Wunsch meines Vaters“ – ein Lehramts-Studium.
Nur für kurze Zeit. Der Wunsch, spirituelle Akzente zu setzen, war größer. 1976 trat er in den Kapuzinerorden ein. Der franziskanische Bettelorden steht für ein Leben in Stille und für Nähe zu den Armen.
Leben wie der Heilige Franz von Assisi
Der 66-Jährige führt im Sinne des Heiligen Franz von Assisi ein Leben in Einfachheit. Er trägt während des Gesprächs den typischen braunen Habit (Kutte) seines Ordens („ich ziehe auch ganz normale Kleidung an“) und zitiert aus einem Hit der Band Silbermond: „Eines Tages fällt dir auf, dass du 99 Prozent nicht brauchst. Du nimmst all den Ballast, und schmeißt ihn weg. Denn es reist sich besser mit leichtem Gepäck.“ Bruder Joachim hält einen Moment inne, strahlt dann und sagt: „Ein sehr guter Text.“
Es ist ein Gespräch über das Warten. Passend im Advent. Die Wochen vor Weihnachten sind die Zeit des Wartens: Kinder warten auf das Christkind, Gläubige auf die Geburt von Jesus Christus.
Wortwechsel zwischen einem Mönch und einem Freund
Im Internet findet sich ein Wortwechsel zwischen einem Mönch und einem Freund. Der Ordensmann wird gefragt, welche geistlichen Übungen er pflege. Er sagt: „Wenn ich sitze, sitze ich. Wenn ich stehe, stehe ich.“ Der Freund schaut verdutzt: „Das ist noch nichts Besonderes. Das machen doch alle so.“ Der Mönch verneint: „Wenn Du sitzt, dann stehst Du schon. Wenn Du stehst, dann bist Du schon auf dem Weg.“ Bruder Joachim hat aufmerksam zugehört. „Ja“, sagt er, „viele Menschen haben verlernt zu warten.“
Der Pater liest gerade ein Buch des Soziologen Hartmut Rosa über den Zusammenhang von Beschleunigung und Stress. „Wenn der Einzelne sich nur noch in einem Hamsterrad dreht und keine Visionen mehr entwickeln kann, wenn die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auseinanderklafft und wenn zunehmend die Ellbogen gegen Schwächere eingesetzt werden, dann wird die Gesellschaft in keine gute Zukunft geführt.“
Eine Chance in der Corona-Pandemie
Eine Gesellschaft, die unter der Corona-Pandemie leidet. Aber das Virus bietet trotz aller Dramatik eine Chance, findet Bruder Joachim: „Wir können lernen, innezuhalten, zu entschleunigen, einen Gang herunterzuschalten. Und zu warten“, sagt er, „der Gesellschaft und jedem Einzelnen bietet sich die Chance, sich zu erneuern.“
Doch wie lernt man das Warten, das Zur-Ruhe-Kommen? „Man braucht Disziplin zum Runterfahren“, sagt Bruder Joachim, „sonst ist man schnell wieder im alten Trott.“
Ein Leben aus dem Spirituellen heraus
Für den Mönch ist es das Leben aus dem Spirituellen heraus, wie er es nennt. Der göttliche Hintergrund, die Erfahrung, „dass da etwas ist, was uns trägt“. Bruder Joachim steht von seinem Platz im Besuchsraum auf und öffnet die Tür zum Sitzzimmer.
Hier nimmt er täglich von 5 bis 7 Uhr und 17 bis 19 Uhr – bisweilen auch mit Gästen – auf einem Kissen auf einer Sitzunterlage knapp über dem Boden Platz und meditiert. „Gegenstandslos, weg vom Denken, hin zum Spüren“, wie er sagt, „ich lasse los.“ Er nennt es eine „religiöse Innenerfahrung“. Diese trage ihn auch über Durststrecken – „natürlich habe ich die auch zwischendurch mal.“
Als Missionar in Mexiko
14 Jahre war Bruder Joachim als Missionar in einer indianischen Region in Mexiko tätig. Nach seiner Rückkehr lebte er in einem Kloster in Hessen. Die Suche nach seiner Lebensform war damit noch nicht beendet: „Ich habe gespürt, dass ich etwas Eigenes, Neues in die Gemeinschaft einbringen muss“, sagt er.
Ein Leben in Stille und vollständiger Konzentration auf Gott im Gebet – die sogenannte Kontemplation. Er fand seinen idealen Ort in Schliprüthen. Die Dorfbewohner akzeptierten, dass er in Abgeschiedenheit leben möchte: „Wenn mich jemand auf der Straße anspricht, rede ich natürlich mit ihm.“ Der Kontakt zu seinen Mitbrüdern im Orden findet vornehmlich per Internet-Chat statt. Seinen überschaubaren Unterhalt trägt seine Ordensgemeinschaft.
Worauf wartet der 66-Jährige?
Bruder Joachim ist 66 Jahre alt. Worauf wartet er? Der Einsiedler muss einen Moment überlegen. „Der Großteil meines Lebens ist gelebt. Ich bin dennoch nicht hoffnungslos.“ Durch seinen „inneren Weg“ sei sein Leben sehr lebendig, findet er. „Es ist so interessant wie damals im Alter von 20. Ich bin jetzt in der schönen Lage, ein vollkommen selbstbestimmtes Leben zu führen.“ Eben nur mit leichtem Gepäck.
Unsere Adventsserie: Geschichten vom Warten
Das Wort Advent hat seinen Ursprung im Lateinischen. Es bedeutet: Ankunft. Mit einer Ankunft verbunden ist: das Warten, auch das Erwarten.
Worte, die im Zentrum dieser Adventsserie stehen. Jeden Tag erzählt uns ein Mensch, der wartet, seine Geschichte. Immer andere Menschen, immer ein anderes Warten: vorfreudig, ängstlich, traurig, lustig, tragisch oder banal. In der Regel sind es kurze Geschichten, seltener längere.
So warten wir gemeinsam mit Ihnen, lieber Leserinnen und Leser, auf den Heiligen Abend und die Ankunft von Weihnachten.