Köln/Essen. Missbrauch in der katholischen Kirche: Einkassierte Informationen, uneinige Bistümer und zornige Christen.
Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße lässt sein Amt als Geistlicher Assistent des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken (ZdK) vorläufig ruhen. Das gab die katholische Laienorganisation am Donnerstagabend bekannt. Damit zieht Heße Konsequenzen aus der aktuellen Debatte um den Missbrauchs-Skandal im Erzbistum Köln, wo er früher Personalverantwortlicher und Generalvikar war. Die Nachricht ist Teil eines Konflikts von außerordentlicher Dynamik, bei dem in den deutschen Bistümern vor allem darum gestritten wird, Verantwortliche namentlich zu benennen. Mittlerweile kritisieren und belasten sich die Bistümer gegenseitig. Betroffene werfen dem Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki zudem „Missbrauch von Missbrauchsopfern“ vor.
Overbeck bekennt Fehlverhalten
Während der Essener Franz-Josef Overbeck am Mittwoch als erster amtierender deutscher Bischof konkret persönliches Fehlverhalten öffentlich bekannte, stoppte der Kölner Erzbischof überraschend Ende Oktober die Veröffentlichung einer vom Erzbistum in Auftrag gegebenen unabhängigen Studie der Münchner Kanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl, zunächst wegen vorgeblicher presserechtlicher Mängel und später wegen vorgeblicher methodischer Fehler. Mitglieder des Betroffenenbeirats sollen überrumpelt und unter Druck gesetzt worden sein, die Entscheidung mitzutragen, ohne dass ihnen mitgeteilt worden sei, dass Woelki den Stopp bereits von langer Hand plante, wie die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt.
Mitglieder des Betroffenenbeirats fühlen sich getäuscht und werfen Woelki in der „Süddeutschen“ „einen „erneuten Missbrauch von Missbrauchsopfern“ vor. Der zurückgetretene zweite Sprecher Karl Haucke betonte gegenüber der „Süddeutschen“, die Erkenntnisse der Münchner Kanzlei müssten aus Sicht des Erzbistums toxisch sein, sonst würde man sich nicht derart der Kritik der Öffentlichkeit und dem Zorn vieler Betroffener aussetzen. Wie der „Kölner Stadtanzeiger“ berichtet, ziehen sich vier Mitglieder des neunköpfigen Gremiums zurück, das damit nicht mehr beschlussfähig sei.
Verlorene Glaubwürdigkeit
Der Fall schlägt hohe Wellen. Der Vorstand des Kölner Diözesanrates schreibt auf seiner Homepage: „Wir bedauern, dass die Bistumsleitung nicht in der Lage zu sein scheint, die Fälle sexualisierter Gewalt so aufzuarbeiten bzw. aufarbeiten zu lassen, dass Täter und Vertuscher endlich klar benannt werden. Dadurch liegt vieles in Scherben, und die Kirche hat an Glaubwürdigkeit verloren. Für Täter und Vertuscher muss es personelle Konsequenzen geben!“
Parallel wurden jetzt Einzelheiten im Fall des Pfarrers A. bekannt, der beispielhaft für das Versagen des Apparates Kirche im Umgang mit Täterpriestern steht. Pfarrer A. ist ein Mehrfach-Intensivtäter. Er wurde von Gemeinde zu Gemeinde und von Bistum zu Bistum in Köln, Münster und Essen weitergereicht und auch dann noch als Gemeindeseelsorger eingesetzt, nachdem er wegen „fortgesetzter Unzucht mit Kindern und Abhängigen“ rechtskräftig zu einer Haftstrafe verurteilt wurde und später erneut vor Gericht stand.
Heße weist Vorwürfe zurück
Der Hamburger Erzbischof Heße gehört zu den Namen, denen im Fall A. Fehlverhalten vorgeworfen wird. Er soll nicht den Missbrauchsbeauftragten der Erzdiözese Köln informiert und so die Aufklärung der Übergriffe möglicherweise verhindert haben, zitiert das Magazin „Kirche und Leben“ die „Bild“-Zeitung, die Zugang zu einem Sondergutachten der Bistümer Köln, Münster und Essen hatte. Erzbischof Heße weist diese und weitere Vorwürfe zurück, lässt jedoch sein Amt als Geistlicher Assistent des ZdK mit sofortiger Wirkung vorläufig ruhen, bis die Sachverhalte endgültig geklärt seien, so das ZdK.
Inzwischen kritisieren andere Bistümer offen die Informationspolitik der Kölner. So warf das Bistum Münster am Donnerstag dem Erzbistum Köln in einer Stellungnahme vor, falsche Informationen zu verbreiten und fordert die umgehende Veröffentlichung der Auswertung des Materials des Sondergutachtens. Die Verantwortlichen des Bistums Münster hätten der Stellungnahme zufolge unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe gegen A. 2019 in den betroffenen Gemeinden Rede und Antwort gestanden, „auch hätten sie Namen der seinerzeit Verantwortlichen genannt und Schuld und Verfehlungen eingeräumt“. Gemeint ist der Münsteraner Bischof Felix Genn selbst, der von 2003 bis 2009 Ruhrbischof war. Genn habe, so die Stellungnahme, es bereits 2019 „einen verheerenden Fehler genannt, dass A. im Bistum Essen tätig werden konnte“.
Frühere Kardinäle belastet
Das Sondergutachten belastet auch die früheren Kölner Kardinäle Joseph Höffner und Joachim Meisner. Ein kirchenrechtliches Verfahren gegen den erneut straffällig gewordenen Geistlichen A. habe Höffner „pflichtwidrig unterlassen“, heißt es darin laut „katholisch.de“. Auch sein Nachfolger Meisner habe um die Taten des Pfarrers gewusst, aber „pflichtwidrig sowohl auf jegliche Sanktionierung (...) kirchlicherseits als auch auf Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Kinder und Jugendlicher verzichtet“.
Während Kardinal Woelki das Gutachten von Westpfahl, Spilker, Wastl zurückhält, hat das Bistum Aachen vor wenigen Tagen das für Aachen in Auftrag gegebene Gutachten dieser Kanzlei auf der Website
https://westpfahl-spilker.de
für jedermann zum Download bereitgestellt.
Bischof Dieser fordert ein Zeichen der Reue
Darin wird dem Bistum Aachen bescheinigt, das Verhalten der Bistumsleitung sei „häufig von einer kaum noch nachvollziehbaren Zuwendung zu den Tätern geprägt“. Weiter heißt es: „Bis zum Jahr 2010 sind den Akten nahezu keinerlei Bemühungen des Bistums zu entnehmen, auf die Opfer aktiv seelsorgerisch zuzugehen.“ Frühere Verantwortliche werden namentlich benannt.
Aachens Bischof Helmut Dieser fordert jetzt von seinem Amtsvorgänger Heinrich Mussinghoff und dessen ehemaligem Generalvikar Manfred von Holtum ein Zeichen der Reue. Bei einer digitalen Pressekonferenz kündigte Bischof Dieser einen Perspektivwechsel an. Man dürfe sich den Tätern nicht länger enger verbunden fühlen als den Opfern. Eine unabhängige Kommission zur weiteren Aufarbeitung und ein Opferbeirat sollen gegründet werden. Zur Finanzierung sollen betroffene Bischöfe und Priester freiwillige Zahlungen machen.
Täter mehr im Blick als Opfer
ZdK-Präsident Prof. Dr. Thomas Sternberg forderte gestern mehr Transparenz in der Missbrauchsaufklärung: „Haben die Verantwortlichen wirklich verstanden, was sexueller und geistlicher Missbrauch bedeuten? Bis in die Gegenwart scheinen die Täter und die Institution mehr im Blick zu sein als die Opfer. Die Tatsache, dass die katholische Kirche als System Mitverantwortung und Schuld der Täter trägt, drängt auf Neuordnungen auf vielen Ebene und in zahlreichen Handlungsfeldern“, schrieb Sternberg auf Facebook.
„Die Verantwortlichen für Vertuschung von Missbrauch, Täterschutz und mangelnder Opferfürsorge müssen sich dem stellen, was sie getan oder unterlassen haben“, erklärt dazu auch die Gesellschaft Katholischer Publizisten (GKP) „Geduld und Vertrauen sind aufgebraucht“, mahnt die GKP. Die Öffentlichkeit habe ein Recht „auf die ganze Wahrheit“.