Münster. Das LWL-Museum für Kunst und Kultur zeigt die große internationale Ausstellung Passion Leidenschaft. Die Kunst der großen Gefühle

Zwischen dem schmerzverzerrten Gesicht des antiken Laokoon und einem grinsenden digitalen Emoji liegen zwar historisch 2000 Jahre, aber gefühlt keine Welten. Empfindungen einen Ausdruck im Bild zu geben, das hat Künstler durch alle Epochen fasziniert. Doch bisher waren Emotionen kein Ausstellungsthema. Das Museum für Kunst und Kultur in Münster wagt nun mit 200 erstklassigen internationalen Exponaten einen Versuch über „Passion Leidenschaft. Die Kunst der großen Gefühle“. Die Ausstellung ist nicht nur vom Schauwert überwältigend. Sie ermöglicht durch ihre ungewöhnliche Konzeption auch enormen Erkenntnisgewinn.

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„Die menschliche Mimik und Gestik als Ausdruck unserer inneren Befindlichkeiten stehen im Mittelpunkt der internationalen Sonderausstellung“, schildert Kuratorin Petra Marx, die Mittelalter-Expertin des Münsteraner Museums. Liebe, Hass, Angst, Schmerz, Eros, Ekstase sind von der Antike bis zur Gegenwart die Triebmittel, welche die Welt in Gang halten – und sie sind das Lebenselixier von Malern und Bildhauern, denn das Publikum will seit jeher vom Schicksal der dargestellten Figuren berührt werden.

Mitgefühl läutert

Das Christentum bringt in dieser Hinsicht einen entscheidenden Schub mit sich. Die Antike kennt zwar Liebe und Hass, aber weder Mitgefühl noch Mitleiden. Das ist eine christliche Erfindung. Die ­Maler ab dem Mittelalter setzen alles daran, das Leiden Christi und die Leidenswege der Märtyrer und Heiligen so ins Bild zu setzen, dass der Betrachter mitleiden kann und über das Mitgefühl sozusagen geläutert wird.

Doch alle Schmerzensmänner, Pietàs und gemarterte Heiligen bedienen nicht nur die Sehnsucht nach Kontemplation und Selbsterkenntnis. Sie enthalten zusätzlich eine weitere emotionale Qualität, die der Neugierde, gepaart mit der Angstlust. Das Laster will man sich in Martin Schongauers „Der heilige Antonius von Dämonen gepeinigt“ zur Vermeidung eigener Sünden genau ansehen. Peter Paul Rubens ist auch dann ein Könner, wenn es um die Kunst der realistischen Abschreckung geht; sein „Bethlehemitischer Kindermord“ und sein „Martyrium der Hl. Ursula“ schockieren heute noch, denn sie schildern Tabubrüche, Grenzüberschreitungen des Humanen durch unvorstellbare Gewalt an den Unschuldigen, den Jungfrauen und den Kindern. Doch Rubens und seine Zeitgenossen haben solche Szenen nicht nur in Bibel und Heiligenlegenden kennengelernt, im Dreißigjährigen Krieg waren sie vielfach Alltag. So werden Angst und Entsetzen zur Anklage.

Nährboden für politisches Handeln

Womit wir bei der Politik wären. Gefühle werden immer mehr zum Nährboden für politisches Handeln und Verhalten. Diesem Aspekt widmet die Ausstellung ebenfalls ein Kapitel, das von Käthe Kollwitz’ „Aufruhr“ über Max Slevogts „Krieg“ bis zu einer Trump-Montage von Martha Rosler reicht.

Emotion, das bedeutet die ganze Bandbreite von Gefühlszuständen, nicht nur Begehren, sondern auch Ekstase, nicht nur Liebe, sondern auch Eifersucht, nicht nur Freude, sondern auch Rausch und Exzess. Unter diesen Stichwörtern zieht die Ausstellung Beziehungen zwischen Kunstwerken der unterschiedlichsten Epochen. Peter Paul Rubens steht neben Ernst Ludwig Kirchner, Lovis Corinth und Bill Viola. Ein und dasselbe Gefühl, jeweils gespiegelt durch die Epochen und Jahrhunderte sorgt für starke Reaktionen beim Betrachter.

Emotionsforschung als neue Disziplin

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Auch das ist erwünscht. Denn obschon die Ausstellung bereits seit 2013 vorbereitet wird, gewinnt sie im Corona-Jahr 2020 an Brisanz. Unwohlsein, Einsamkeit und Trauer grundieren nun die erzwungene 24-Stunden-Heiterkeit der Postmoderne. Die Menschen müssen sich abstandssicher wieder mehr auf Gestik und Mimik verlassen. Der Betrachter lernt eine relativ neue wissenschaftliche Disziplin kennen, die Emotionsforschung.

Kuratorin Petra Marx schildert die sozialen Dimension des Themas. „Nicht zuletzt ist unsere Gesellschaft von einer tiefen Sehnsucht nach großen Empfindungen geprägt, nach Authentizität, Charisma und Enthusiasmus – und dies gerade vor dem Hintergrund der ständigen Reizüberflutung und der politischen und ökonomischen Verunsicherungen.“ Der Ausstellungstitel ist daher doppeldeutig gewählt. „Passion Leidenschaft“ spielt bewusst mit den Mehrfachbelegungen der Begriffe, die das Leid in der Leidenschaft schon vorwegnehmen.