Hagen. Die Ringparabel? Toleranz statt Hass? Wer kennt noch Lessings großes Drama Nathan der Weise. Die Junge Bühne Hagen übersetzt das Stück ins Heute
Nathan. Alte Geschichte, Antisemitismus, traurig, so etwas soll ja heute wieder passieren. Gehört trotzdem zu den Akten. Die Junge Bühne Lutz im Theater Hagen verlegt Gotthold Ephraim Lessings Klassiker „Nathan der Weise“ jetzt in ein Archiv. Und macht daraus zugleich einen Comic. Damit gelingt Regisseurin und Lutz-Leiterin Anja Schöne eine verblüffend zeitgemäße Übersetzung des Stoffes, ohne dass der historische Hintergrund oder der aufklärerische Impuls verloren gingen.
„Nathan wird gefühlt immer noch aktueller“, sagt Anja Schöne. „Selbst von Grundschullehrern höre ich, dass religiöse Beleidigungen auf dem Schulhof Alltag sind.“ Du Jude! Du Christ! Du Moslem! Doch es gibt einen weiteren Anlass für das Lutz-Team, Lessings „Nathan“ zu machen. „Durch Corona haben ja auch die Verschwörungstheorien noch mehr zugenommen, gerade antisemitische Verschwörungstheorien, auf Kanälen, wo man gar nicht weiß, wie man ihnen begegnen soll.“
Jerusalem der Kreuzzüge
Der Toleranzgedanke der Aufklärung steht im Mittelpunkt von Lessings Ideendrama von 1779. Eine Adaption für das Jugendtheater steht heute vor dem Problem, dass es ziemlich viel Text gibt und die Sprache nur noch schwer verständlich ist.
Dieser Herausforderung begegnet Anja Schöne mit mehreren Erzählebenen: Lessing, das Jerusalem der Kreuzzüge und das Heute. Die Verwandlungen gelingen organisch und überraschen zugleich. Denn Anja Schöne hat mit Bühnenbildner Jeremias H. Vondrlik, Comic-Zeichner Jan Falkenberg und Kostümbildnerin Sabine Kreiter eine Archivsituation entworfen, die das Publikum immer wieder an Schlüsselstellen in eine Graphic-Novel hineinzieht.
Analoges Archiv
In dem sehr analogen Archiv arbeitet unter der Leitung eines zwanghaften Bürokraten eine Gruppe von Angestellten, die sich nicht mögen. Sie schikanieren sich gegenseitig, sie bedienen den Overhead-Projektor und klauen dem Kollegen den Stempel – und sie träumen von einem ganz anderen Leben.
So verwandelt sich der unterdrückte Jungspund plötzlich in den verwegenen Tempelritter, eine Mischung aus Johnny Depp und Kurt Cobain, der eine junge Jüdin aus einem brennenden Haus rettet und sich dagegen wehrt, vom Patriarchen zum Spion gegen den Sultan instrumentalisiert zu werden. Der Sultan hingegen spielt mit Menschen wie mit Schachfiguren. Sie alle haben etwas zu hassen.
Abgründe von Hass und Gewalt
Unmerklich wächst die Situation aus dem Parabelhaften ins Persönliche, da wo das Mitgefühl möglicherweise wohnt. Schreckliche Dinge kommen ans Licht, Abgründe von Gewalt. Nathan, dessen Frau und sieben Kinder von Christen verbrannt wurden, nimmt dennoch ein junges verwaistes Christenmädchen als Tochter auf. Dafür soll er nach dem Willen des Patriarchen auf den Scheiterhaufen. Der Tempelritter liefert die Steilvorlage. Die Handlung mündet in der berühmten Ringparabel. Dass alle drei Religionen schuldig geworden sind, bedeutet nicht, dass auch der Einzelne schuldig werden muss.
„Ich hatte das Gefühl, es würde nicht stimmen, wenn ich einfach nur den Lessing nacherzähle“, sagt Anja Schöne. „Das Archiv dient dazu, antisemitische Vorfälle zu dokumentieren. Jeder der drei Protagonisten hat eine Akte mit einem Fall, und immer, wenn die Akte aufgeschlagen wird, gehen wir raus aus dem Archiv und rein in die Nathan-Geschichte. Das funktioniert über den Comic.“ Die Archivsituation bedient aber übrigens auch die Corona-Vorschriften. Denn im Lutz wird mit Visier und Handschuhen gespielt.
Schauspieler sind Grenzgänger
Wie immer arbeitet Anja Schöne mit einem Team von Schauspielern, das Grenzgänge zwischen den Rollen erprobt. So ist Ralf Grobel ein Wanderer zwischen den Welten, aus dem verkniffenen Archivar wird ein Jude, der weiß, warum die Menschen tolerant sein sollten. Michael Mayer ist im Archiv das Schlusslicht in der Hierarchie; in der Nathan-Ebene kann er als verliebter Templer Emotionen, Vorurteile und Zweifel zeigen. Anne Schröder findet als Saladin eine Balance zwischen Grausamkeit und Neugierde, und Kristina Günther ist gleichzeitig eine Büromaus mit nickeligen Neigungen und ein Derwisch, der angesichts der Verhältnisse keine Luft kriegt.
Die historische Geschichte können die Protagonisten nicht mehr verändern. Aber vielleicht die aktuelle Gegenwart.
Die Premiere ist am Samstag, 26. September, um 19.30 Uhr. Karten und weitere Info: www.theaterhagen.de