Hagen/Essen. Immer mehr Kirchenaustritte. Generalvikar Klaus Pfeffer wird daher deutlich: Er fordert eine Kirche, in der Menschen sein dürfen, wie sie sind.

Die Zahl der Kirchenaustritte ist so hoch wie nie zuvor. Bislang verorteten die Bistümer die Ursachen für Austritte in isolierbaren Themen wie der Frage der Kirchensteuer, dem Missbrauchsskandal oder dem demographischen Wandel. Das kann nun nicht mehr als Erklärung funktionieren. Das Bistum Essen hat daher unter dem Titel „Kirchenaustritt oder nicht?“ eine Untersuchung in Auftrag gegeben. Generalvikar Klaus Pfeffer (56) spricht im Interview über Gründe für den Austritt und rät der Kirche zu ernsthafter Selbstkritik.

Warum treten Christen aus der Kirche aus?

Klaus Pfeffer: Der Kirchenaustritt steht meist am Ende eines längeren Prozesses der Kirchendistanzierung. In unserer Untersuchung erzählen einzelne Menschen von ihren persönlichen Geschichten mit der Kirche, die von unzähligen Enttäuschungen, Verletzungen und Kränkungen geprägt sind. Irgendwann gibt es dann einen konkreten Anlass, der das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen bringt – und der Austritt wird vollzogen. Das bedeutet aber keineswegs, dass mit dem Kirchenaustritt zugleich der Verlust oder die Aufgabe des Glaubens verbunden ist. Die Menschen leben ihre Religiosität dann einfach auf andere Weise. Sie haben lediglich den Bruch mit der Kirche vollzogen, zu der sie schon viel länger auf Abstand gegangen sind.

Treten die 60-Jährigen aus oder eher die Jüngeren?

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Die Austritte betreffen jetzt die Gruppe der gut gebildeten und gut verdienenden Frauen und Männer im Alter von 20 bis 35 Jahren. Das ist für uns extrem bedrohlich, weil es den demografischen Prozess massiv beschleunigt. Allein ein Blick in unsere Gottesdienste und andere kirchliche Veranstaltungen zeigt das: Es sind überwiegend ältere Menschen jenseits der 60, die bei uns zu finden sind – die nachrückenden Altersgruppen werden deutlich kleiner. Das hat massive Auswirkungen und wird unser kirchliches Leben noch radikaler verändern, als wir derzeit ahnen.

Was sind denn Gründe dafür, dass die jüngeren Leute abwandern?

Unsere Untersuchung bestätigt, was ich aus Gesprächen mit vielen jungen Leuten weiß: Unsere Kirche wird als „altmodisch“ und völlig aus der Zeit gefallen erlebt. Gottesdienste sind für viele Menschen einfach langweilig, sie verstehen unsere Sprache nicht und lehnen eine ganze Reihe von kirchlichen Lehren grundsätzlich ab. Dazu gehören vor allem viele moralische Auffassungen zur konkreten Lebensführung und insbesondere zur Sexualmoral. Nicht zuletzt erscheinen wir vielen Menschen als bürokratischer „Machtapparat“, der unglaubwürdig erscheint. Ich gebe zu, dass ich die massive Kritik vieler junger Menschen verstehe. Wir streiten in der Kirche derzeit oft über Fragen, die junge Menschen überhaupt nicht interessieren – und wir geben Antworten auf Fragen, die niemand stellt. Vielleicht sollten wir mal aufhören, uns in der Kirche nur mit uns selbst zu beschäftigen – und stattdessen mehr hinhören und zuhören, was junge Menschen – und nicht nur sie – zu sagen haben. Ich bin mir nämlich sicher, dass Gottes Geist keineswegs nur durch Kirchenleute spricht, sondern gerade auch durch Menschen, die außerhalb der offiziellen Kirche stehen.

Ein schleichender Prozess

Hat die Kirche das Thema Kirchenaustritte verschlafen oder zu lange als gottgegeben hingenommen?

Weil wir in der Kirche uns viel zu sehr um uns selbst drehen, nehmen wir gar nicht wahr, dass uns immer mehr Menschen davonlaufen. Es ist wie ein schleichender Prozess, der zumindest in den engeren Kirchenkreisen lange Zeit kaum aufgefallen ist, weil wir da eher nur diejenigen im Blick haben, die sich engagieren und die regelmäßig zur Kirche kommen. Die große Zahl derer, die aus einer grundsätzlichen Sympathie Kirchensteuer zahlen oder nur zu bestimmten Anlässen unsere Angebote wahrnehmen, wurden und werden oft übersehen. Wer nur zu Weihnachten zur Kirche kommt, oder bei Taufen, Trauungen und Beerdigungen den Kontakt sucht, wird oft kritisch beäugt oder nur mit wenig Wertschätzung behandelt. Da sind wir noch sehr von der Haltung geprägt, dass man nur „ganz oder gar nicht“ Katholik sein kann. Wir brauchen aber eine viel größere Offenheit, mit der wir alle Menschen willkommen heißen, die ein Interesse am christlichen Glauben haben oder die zumindest eine Sehnsucht nach Religiosität haben. Es ist doch schon viel, wenn Menschen sich auf die Suche begeben nach etwas, das ihre Seele berührt und sie mit Gott verbindet – selbst wenn das nur ein paar wenige Male im Jahr der Fall sein mag. Ich glaube, wir brauchen in der Kirche eine neue Lust und Neugier auf die Menschen in all ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit. Sie laufen uns ja auch deshalb davon, weil sich niemand aus unseren Reihen für sie genügend interessiert hat.

Im Sauerland aufgewachsen

Klaus Pfeffer wurde 1963 in Werdohl im Märkischen Kreis geboren und wuchs in der Nachbarstadt Neuenrade auf. Nach dem Abitur absolvierte er ein Zeitungsvolontariat beim Süderländer Volksfreund, bevor er in Bochum und Innsbruck Theologie studierte.

Pfeffer war viele Jahre Jugendpfarrer im Ruhrbistum Essen. Seit 2012 ist er Generalvikar und damit Verwaltungschef der Diözese. In seiner Freizeit liest Pfeffer zeitgenössische Literatur, joggt und feuert den FC Schalke 04 im Stadion an.

Wie will die Kirche ihr Image verbessern, wenn doch die Zahl der Priester weiter sinkt, das Angebot also immer schlechter wird?

Die Kirche hängt nicht an den Priestern allein – Kirche sind alle, die davon überzeugt sind, dass der christliche Glaube das Leben und unsere Gesellschaft bereichert und deshalb auch in der Form einer großen Gemeinschaft gelebt und organisiert werden muss. Das Christentum hat ja vor 2000 Jahren nicht mit einer Behörde und einer Vielzahl hauptberuflicher Kräfte begonnen, sondern mit Menschen, die von Jesus begeistert waren. Gemeinsam – Hauptberufliche und Ehrenamtliche miteinander – müssen wir uns um eine hohe Qualität unserer kirchlichen Arbeit bemühen. Unsere Untersuchung hat dabei gezeigt, dass die Angebote zu den Lebenswenden und zu besonderen Anlässen entscheidend sein können: Ob zur Geburt eines Kindes, in der Vorbereitung und Feier der Trauung, im Todesfall und zum damit verbundenen Begräbnis, in persönlichen Krisensituation und zu vielen anderen Gelegenheiten kommt es darauf an, ob sich Menschen willkommen und verstanden fühlen. Menschen müssen die Erfahrung machen, dass Christen und dass die Kirche für sie da sind – und zwar vorbehaltlos und verständnisvoll. Da können schon kleine Nachlässigkeiten und Unfreundlichkeiten schnell großen Schaden anrichten.

Christliche Kirchen werden deutlich kleiner

Können unter diesen Umständen die Priesterweihe für Frauen oder die Freiwilligkeit des Zölibats überhaupt noch eine Trendumkehr bewirken?

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Eine Trendumkehr im Sinne einer Rückkehr zu vermeintlich guten alten Zeiten einer triumphalistischen Kirchenherrlichkeit wird es nicht mehr geben. Wir leben heute in einer pluralen und freiheitlichen Welt, in der Glaube und Religion nur eine Möglichkeit unter vielen anderen sind, wonach Menschen ihr Leben ausrichten. Darum führt kein Weg daran vorbei, dass die christlichen Kirchen deutlich kleiner werden als dies in vergangenen Generationen der Fall war. Die „Trendumkehr“, die mir wichtig ist, meint etwas anderes: Ich wünsche mir ein Christentum, das auf der Höhe der Zeit ist und anschlussfähig bleibt zu den Menschen und zu den Gesellschaften der Gegenwart. In einer Welt, in der die Frauen und Männer gleichberechtigt und gleichrangig das gemeinschaftliche Leben gestalten, wird eine Kirche auf immer weniger Akzeptanz stoßen, die Frauen von den wichtigsten Ämtern ausschließt – und das mit einer Begründung, die selbst innerhalb der Kirche von immer mehr Menschen nicht mehr verstanden und auch nicht akzeptiert wird. Das gilt ähnlich für den Zölibat in seiner verpflichtenden Form. Es ist nicht zu leugnen, dass er für viele Priester eine schwere Belastung bedeutet – und nicht zuletzt auch dazu beiträgt, dass viele Männer den Weg in diesen Beruf erst gar nicht eingeschlagen haben oder später unter großem Leid aus dem Amt ausscheiden mussten.

Immer mehr getaufte Christen werden von den Sakramenten ausgeschlossen, weil ihre Lebenswirklichkeit nicht übereinstimmt mit dem Kirchenrecht, zum Beispiel bei den Stichworten wiederverheiratete Geschiedene und homosexuelle Lebensformen. Warum sollten diese Menschen in der Kirche bleiben?

Weil Jesus keinen einzigen Menschen ausschließt oder abweist, nur weil er von bestimmten Normen oder Idealvorstellungen abweicht. Wir haben in der katholischen Kirche noch sehr viel zu lernen, wie wir mit Menschen umgehen, deren Leben nicht perfekt verläuft oder die bestimmten traditionellen Vorstellungen nicht entsprechen. Ich kenne so viele Leidensgeschichten aus meinem seelsorglichen Alltag und aus meinem privaten Umfeld. Da haben Menschen unsere Kirche hartherzig, verurteilend und ausgrenzend erlebt. Das darf nicht sein. Jesus hat nachdrücklich davor gewarnt, Urteile über andere Menschen zu fällen. Wir sollen einander annehmen und akzeptieren. Kirche muss ein Ort sein, wo Menschen sein dürfen, wie sie sind.