Hagen/Güterloh. Fünf Fragen, fünf Antworten: Wie zwei Virologen das Risiko in der Region nach dem Massen-Ausbruch in der Firma Tönnies einschätzen.

Von Meschede im Hochsauerlandkreis sind es gut 62 Kilometer Luftlinie bis nach Gütersloh, von Hagen aus 87 Kilometer. Wie groß ist da das Risiko, dass die Welle der Coronavirus-Infektionen aus dem Kreis Gütersloh bis ins Sauerland, nach Hagen oder in den Ennepe-Ruhr-Kreis schwappt? Antworten auf wichtige Fragen.

1. Ist der Ausbruch bei Tönnies ein zweiter Fall Heinsberg?

Auf einer Karnevalsveranstaltung in Heinsberg hatte es im Februar unzählige Ansteckungen gegeben, weil ein infiziertes Ehepaar mit 300 anderen Gästen feierte. Von dort aus breitete sich der unsichtbare Feind aus. Die Infektionszahlen in Rheda-Wiedenbrück sind im Vergleich noch drastischer. „1500 infizierte Mitarbeiter sind schon eine wirklich große Zahl“, sagt Dr. Rolf Kaiser, zertifizierter Fachvirologe und Leiter der molekularen Diagnostik am Institut für Virologie an der Uni-Klinik Köln. Die Zahlen sprächen dafür, dass das Infektionsgeschehen „schon vor einiger Zeit eingesetzt“ habe.

Im Grunde seien Heinsberg und Tönnies vergleichbar, aber es gebe eben auch „gravierende Unterschiede. Zum einen schützen wir uns alle derzeit deutlich besser gegen ein Virus, weil wir Mundschutz tragen und Abstand halten. Zum anderen spielt uns die Jahreszeit in die Karten: Es ist warm und trocken, das mag das Virus nicht sonderlich.“

2. Wie gefährdet ist unsere Region von Siegen-Wittgenstein bis Soest und von Brilon bis Hagen?

Nach allem, was die Gesundheitsbehörden bisher wissen, spielt sich das Infektionsgeschehen hauptsächlich innerhalb der Belegschaft der Firma ab. Skandalös genug, wie Prof. Ulf Dittmer, Leiter des Instituts für Virologie an der Uni-Klinik Essen , findet. „Es wundert mich, dass so etwas passieren konnte. Die besondere Gefährdung in Schlachthöfen war schon drei, vier Wochen vorher bekannt“, sagt Dittmer und verweist auf die Bedingungen in den Hallen, die eine Infektion leicht machen: niedrige Temperaturen, hohe Luftfeuchtigkeit, lärmende Maschinen, wegen derer laut miteinander gesprochen werden muss, was eine Tröpfcheninfektion wahrscheinlicher mache „Dass offenbar aber weitestgehend weitergearbeitet wurde wie sonst auch oder nur mit geringen Anpassungen, halte ich für unverantwortlich.“

7-Tages-Inzidenz in NRW
7-Tages-Inzidenz in NRW © Manuela Nossutta /Funkegrafik NRW

Und jetzt? Breitet sich das Virus weiter aus? „Epidemien beginnen immer genau so“, sagt Dittmer. „Das Besondere in diesem Fall ist, dass es eine Personengruppe getroffen hat, die offensichtlich relativ isoliert gelebt hat. Aber ob das so war, müssen die Gesundheitsämter nachverfolgen. Wenn es Interaktionen mit anderen Bevölkerungsgruppe gegeben hat, dann haben wir eine hohe Gefährdungslage .“ Sind Familien mit Kindern darunter? Kinder, die in die Kita oder die Schule gehen? „Das Infektionsrisiko ist nicht groß, wenn zwei Menschen aneinander vorbei gehen, sondern wenn sie engen Kontakt über einen längeren Zeitraum als nur ein paar Augenblicke haben“, erklärt Dittmer.

Der Kollege Kaiser rät in weiter entfernter Nachbarschaft aber erstmal zu Gelassenheit. In Hagen, Arnsberg oder Soest „dürfte die Wahrscheinlichkeit einer massenweisen Ausbreitung gering sein, wenn nicht ein steter und intensiver Austausch dieser Region mit einer stark betroffenen Stadt existiert. Zu Panik besteht daher kein Grund.“

3. Sind die Menschen in Südwestfalen auch von den Lockdown-Maßnahmen betroffen?

Nein, sie gelten nur für den Kreis Gütersloh und in abgeschwächter Form für den Kreis Warendorf. Menschen aus dem Kreis Gütersloh, die etwa im Sauerland Urlaub machen wollen, dürfen das auch tun. Auf der anderen Seite: Wenn zum Beispiel Sauerländer in den Kreis Gütersloh fahren, gelte für sie die gleichen Kontaktbeschränkungen wie für die Gütersloher. Zudem: Ministerpräsident Laschet die Menschen auf, in ihrem Kreis zu bleiben. Und die Stadt Münster hat Dienstagabend eine generelle Maskenpflicht im öffentlichen Raum für Bürger der Kreise Warendorf und Gütersloh angeordnet.

4. Wie viele Tönnies-Mitarbeiter leben in unserer Region?

Insgesamt gibt es im Vergleich zu den Kreisen Gütersloh oder Warendorf nur wenige Tönnies-Mitarbeiter, die in Südwestfalen leben. Am stärksten betroffen ist der Kreis Soest, hier sind es nach neustem Stand 154 – die meisten davon wohnen in Lippstadt und Geseke. Dort lebt auch ein weiterer Tönnies-Mitarbeiter, der jetzt positiv auf Corona getestet wurde. Mindestens zwei positive Fälle gibt es auch im Kreis Unna, insgesamt leben dort 33 Tönnies-Beschäftigte oder Subunternehmer. Weitere Beschäftigte, die unter Quarantäne gestellt wurden, sind aus dem Hochsauerlandkreis (6), dem Ennepe-Ruhr-Kreis (2), Dortmund 14 und dem Märkischen Kreis (1) bekannt.

5. Sind die Mitarbeiter-Listen jetzt komplett?

„Es gibt jetzt nur noch eine überarbeite Liste, deshalb gehen wir davon aus, dass darauf alle Mitarbeiter von Tönnies und der Subunternehmer stehen“, so eine Sprecherin des Kreises Gütersloh auf Anfrage unserer Zeitung. „Jetzt müssen aber noch alle Betroffen von den mobilen Teams aufgesucht werden.“ Diese Arbeit haben jetzt auch die Gesundheitsämter in Südwestfalen. Die mussten sich in den vergangenen Tagen durch riesige Tabellen wühlen, um die in ihrem Zuständigkeitsbereich lebenden betroffenen Tönnies-Mitarbeiter zu identifizieren. „Wir haben die Listen sofort weitergeleitet, um keine Zeit zu verlieren“, so Christoph Söbbeler, Sprecher der Bezirksregierung Arnsberg. Die waren zunächst wohl unvollständig, teilweise hatten sich Tönnies-Mitarbeiter selbst gemeldet, die gar nicht auf den Listen standen. „Die Gesundheitsämter vor Ort führen den eigentlichen Kampf, sie haben eine extreme Arbeitsbelastung“, lobt Söbbeler. Immerhin: neue Mitarbeiterlisten von Tönnies müssen sie nun nicht mehr befürchten.