Willingen. In Willingen fällt der Party-Tourismus in der Corona-Krise aus. Das Sauerland-Dorf setzt jetzt noch stärker auf Wanderer, Radfahrer und Familien.
Mein Gott, das konnte ja nicht gut gehen. André Schmidt war Kellner im Lokal Don Camillo in einer ehemaligen Kirche und hat sich am 15. Januar mit einer Café-Lounge in einem Ladenlokal selbstständig gemacht. Und diese „Auszeit“ genannt.
„Ja, ich wurde wiederholt auf den Namen angesprochen“, sagt der gebürtige Medebacher. Denn zwei Monate nach der Eröffnung, Nomen est omen, ging es für den 33-Jährigen und die anderen Gastronomen in Willingen in die Corona-Auszeit. Der Tanz in der Party-Hochburg ist vorerst vorbei. Keine Mannschaftsfahrt, keine Kegeltour. Das Virus als Party-Bremse.
Wer glaubt, dass für Schmidt deshalb die Messe gelesen ist, sieht sich getäuscht. „Ich bin Optimist“, sagt der dreifache Familienvater und berichtet doch von Existenzängsten bis zur Wiederöffnung am 15. Mai: „Als ich den Laden wegen Corona schließen musste, habe ich mich an einen Tisch gesetzt und geheult.“
Cocktail to go in der Auszeit
Doch für Schmidt geht es immer weiter. Er schuf einen Cocktail-To-Go-Service – mit Erfolg: „Nicht, dass die Willinger plötzlich auf Cocktails umgestiegen sind, aber sie wollten mir etwas Gutes tun“, schwärmt Schmidt von der Solidarität in dem 6000-Einwohner-Ort mit 1 Million Übernachtungen im Jahr.
Schmidts „Auszeit“ ist ansprechend eingerichtet. „Es soll gemütlich, eher ruhiger sein.“ Sagt’s und betont sogleich, dies sei kein Plädoyer gegen den Party-Tourismus. „Der hat seine Daseinsberechtigung. Man darf nie vergessen, dass eher diejenigen Investitionen in die touristische Infrastruktur bezahlen, die zehn Bier bestellen als jene, die mit zwei Tassen Kaffee dabei sind.“
Besagte Zielgruppe findet auf dem Ettelsberg ihre Bestimmung. Die Ettelsberg-Hütte, oder besser: „Siggis Hütte“, ist Willingens ungekröntes Wahrzeichen. Wirt Siegfried „Siggi“ von der Heide ist bekannt wie ein bunter Hund. In der Corona-Krise leidet er wie ein Hund. „Es ist schrecklich. Mir fehlen die Gäste so sehr“, klagt er, „die Hütte ist mein Leben.“
Von der Heide ist „78,9 Jahre“ alt, wie er sagt. 42 Jahre führt seine Familie den Treff in 838 Metern Höhe. „Wir müssen alle vorsichtig sein“, sagt er, „aber Gäste mit Maske auf Abstand, die auf einen Zettel ihre Kontaktdaten schreiben – das ist nicht die Gastronomie, die ich aufgebaut habe.“
Siggis Hütte war schon da, als es den Begriff Erlebnisgastronomie noch nicht gab. Bis heute wirbt auf der Internetseite der Ettelsberg Seilbahn ein elf Jahre alter TV-Beitrag für die Hütte.
Warum auch nicht? Es hat sich nichts verändert. Bis Corona kam. Jetzt werden nur „To-Go-Angebote“ gereicht. „Bier und Würstchen, Kaffee und Blechkunden. Nur zum Mitnehmen“, so der Wirt. Aus seinen Worten ist Fassungslosigkeit zu hören.
Samstags – der Party-Tag in Willingen – ist Siggis Hütte jetzt geschlossen. „Die Leute sind so gut vernetzt. Wenn Fünfe sehen, dass wir offen haben, wären kurz danach 100 da. Und wir würden zur Verantwortung gezogen.“ Es wäre „eine Katastrophe für den Ort, wenn Willingen das zweite Ischgl würde“. Tausende von Skiurlaubern sollen in dem österreichischen Party-Ort mit dem Virus infiziert worden sein.
Siggi von der Heide hat seine Zuversicht dennoch nicht verloren. „Wir Willinger krempeln immer die Ärmel hoch. Jetzt auch.“ Es zahle sich aus, dass der Ort entgegen verbreiteter Meinungen nie ausschließlich auf Party-Tourismus gesetzt habe. „Willingen war immer breit aufgestellt. Zum Beispiel mit Angeboten für Wanderer und Radfahrer in unserer schönen Landschaft.“
Den Beweis liefert die Umgebung der Graf Stolberg Hütte im Ortsteil Usseln. Das Ehepaar Grabowski aus Oberhausen hat sich zusammen mit Viktoria (3), Sophia (1) und Oma Monika zu einer Wanderung aufgemacht.
Für einen traumhaften Panorama-Blick auf die Weite des Sauerlandes bleiben sie an der Hütte stehen.Die Familie ist erstmals für fünf Tage in Willingen. „Schön hier?“ Kurze Antwort von Vater Thomas: „Sieht man doch.“
Kein „Ballermann des Sauerlandes“
Die Hütte in 701 Metern Höhe, erklärt Wirt Arndt Brüne derweil, steht auf hessischem Grund, der Asphaltweg davor in NRW. Um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen: „Wir sind Sauerländer.“
Der 34-Jährige engagiert sich bei „Aktives Willingen“, eine Art Gewerbeverein. Er ärgert sich nicht mehr darüber, dass der Ort gerne als „Ballermann des Sauerlandes“ tituliert wird: „Das war noch nie die Wirklichkeit. Aber Bilder feiernder Menschen verbreiten sich schneller als Aufnahmen von Wanderern.“
Nach Corona müsse man sich noch stärker auf die anderen Zielgruppen neben den Party-Touristen konzentrieren, findet Brüne. Aber: „Wir müssen keine Alternativ-Angebote schaffen. Wir haben sie schon.“
Der aktuelle Rad- und Wander-Boom spiele den Willingern in die Karten. Im Juli eröffnet der Upländer Milchpfad, „der erste richtige Wanderweg für Kinder“.
Gedanken machen müsse man sich auch, wie man Homeoffice-erprobten Beschäftigten eine Kombination aus Arbeit und Freizeit im Familienurlaub ermöglicht. Brüne: „Willingen wird gestärkt aus der Krise hervorgehen.“ Von wegen Auszeit. Es soll in Zukunft eher der Name eines Cafés an der Mühlenkopfschanze gelten: Es heißt „Aufwind“.
„In diesem Ort passt einfach alles zusammen“
Der Veranstalter Müller-Touristik will demnächst Familien nach Willingen bringen. Gespräch mit Geschäftsführer Bernd Niemeyer.
Welche Bedeutung hat Willingen für den Party-Tourismus?
Eine sehr große. Hier passt einfach alles zusammen!
Was zeichnet Willingen aus?
Die Infrastruktur ist perfekt. Das Schöne ist, dass sich verschiedene Zielgruppen angesprochen fühlen. Das geht ganz hervorragend miteinander. Gastronomie, Hotellerie und die vielen Freizeitangebote machen Willingen für Partygäste, aber auch für Tagungsgäste und Familien sehr attraktiv.
Wird sich der Party-Tourismus durch Corona verändern?
Nein. Gesellschaft, Gemeinschaft, Freude und Fröhlichkeit möchten die Menschen auch künftig erleben. Und beim Feiern geht das am Besten. Natürlich heißt es im Moment „Verzicht üben“. Aber einfach mal ein paar Tage dem Alltag entfliehen und das Leben genießen wird auch in Zukunft gefragt und wichtig sein
Sie haben in der Corona-Krise einen Familienkatalog aufgelegt. Ohne Willingen. Wieso?
Wir mussten sehr schnell sein. Mehrere Partner hatten uns zuvor schon proaktiv angesprochen. Den Katalog wird es weiterhin geben – demnächst definitiv mit Willingen.